Zurück auf's Festland
Von belgischer Gastfreundschaft und wilden Kühen
Ein Blick hinter den Duschvorhang
Zurück in Frankreich fahren wir für einige Zeit auf der leeren Zubringerstraße zum Hafen still nebeneinander her. Wir fühlen uns beide etwas wehmütig – ich vermisse die hügelige und abwechslungsreiche Landschaft Englands jetzt schon! Hier ist plötzlich alles flach, ziemlich öde und heruntergekommen (naja, Dunkerque gehört wohl auch nicht zu Frankreichs Vorzeigestädten).
Wir übernachten wieder auf dem Einhorn-Campingplatz, hauptsächlich wegen des unschlagbaren Preises von 9,50€ pro Nacht. Während wir bei unserem letzten Aufenthalt noch fast die einzigen Gäste waren, ist der Platz bei unserer Ankunft am späten Nachmittag nun voll bis zum Anschlag – hauptsächlich Wohnmobile und Camper-Vans aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland.
Es gibt auf dem Platz ein großes Sanitärgebäude mit zwei separaten Bereichen – der eine in pink, der andere in grün gehalten. Bei unserem letzten Aufenthalt hatten wir uns bereits gewundert, dass es keinerlei Beschilderung zur Unterscheidung von Herren- und Damenbereich gibt. “Aber gut”, denken wir, “ die Franzosen waren da schon immer etwas lockerer, es handelt sich sicherlich um Unisex-Sanitäranlagen.”
Genau wie bei unserem vorherigen Aufenthalt gehe ich also schnurstraks durch die grüne Türe zu den Duschen und werde dabei von einem älteren Herren, der sich gerade die Hände wäscht, irritiert beäugt. Ich denke mir zunächst nichts dabei, doch als ich auch beim Verlassen der Duschkabine von einigen umstehenden Herren der Schöpfung eher feindseelig beäugt werde, dämmert es mir, dass ich mich wahrscheinlich im Herrenbereich befinde. Hups!
Dabei hätte ich schwören können, dass sich bei unserem vorherigen Aufenthalt dem Duschgel-Geruch nach zu urteilen ein Mann in der pinken Sanitäranlage in der Kabine neben mir geduscht hatte (und auf der anderen Seite Joel…)!
Belgische Gastfreundschaft
Am nächsten Tag wird es ernst: Vor uns liegen über 90 km Strecke bis zur Bivak-Zone Onderdale, wo wir heute übernachten wollen.
Bivakzonen in Belgien
Eine Bivakzone ein ausgeschriebener Bereich, in dem das Übernachten (mit und ohne Zelt) für 1-2 Nächte kostenlos erlaubt ist. Bivakzonen befinden sich inmitten der Natur und sind nicht mit einem Campingplatz vergleichbar: Es gibt kein Trinkwasser und nur in wenigen Fällen eine Trockentoilette oder eine Pumpe für Waschwasser. Größere Gruppen und das Anreisen mit einem motorisierten Fahrrad sind nicht erlaubt.
Wichtige Regeln, die beachtet werden sollten: Kein Lärm, kein offenes Feuer außerhalb der gekennzeichneten Areale und insbesondere muss die Zone sauber und ohne Müll hinterlassen werden.
Hinterlasst nichts in der Bivakzone, außer euren Fußabdruck!
Für einige Bivakzonen muss man sich im Vorfeld kostenlos per Telefon/Mail registrieren.
Wir finden das Konzept der Bivakzonen genial, denn es ermöglicht Wanderern und Fahrradfahrern wie uns mit einem niedrigen Budget, Belgien und die Natur auf eine ganz besondere Art zu erleben. Campingplätze sind außerhalb der Gegend um Antwerpen rar und überteuert.
Wer die Nacht lieber in der Natur als auf einem überfüllten Campingplatz verbringen möchte, ist hier definiv richtig!
Weitere Informationen und die Standorte der einzelnen Bivakzonen findet ihr auf www.bivakzone.be (belgisch/englisch).
Nach 10 Kilometern verlassen wir Frankreich und sind zurück auf den einmaligen belgischen Radwegen (wir vermuten sogar, es gibt in Belgien insgesamt mehr Radwege, als Straßen…)! Und gerade an einem langen Tag wie heute lehnt er sich gegen uns auf – der Wind. Obwohl alles flach ist, müssen wir ordentlich in die Pedale treten, um vorwärts zu kommen.
45 km – wir sind ziemlich k.o. und machen Rast auf einem schmalen Streifen Gras zwischen Straße und Wald, der uns ein wenig Schatten spendet. Es ist Sonntag, sodass wahre Hundertschaften an Radelnden unterwegs sind. Manche grüßen uns, manche beäugen uns skeptisch dabei, wie wir unsere Campingstühle am Wegesrand aufstellen.
Als wir gerade dabei sind, unseren Proviant auszupacken, stoppt ein Auto neben uns mit quietschenden Reifen. Ein Mann mittleren Alters grinst aus dem Fenster und streckt uns eine Plastikschale entgegen. “Wollt ihr eine Erdbeere?” oder so in der Art fragt der Mann auf flämisch. Joel antwortet auf Englisch: “Klar, genial, wir lieben Erdbeeren!” Neugierig geworden parkt der Mann sein Auto und wir unterhalten uns eine Weile über unsere Reise und die vor uns liegende Route.
Bram, so heißt er, ist mit seinen Eltern zum Mittagessen verabredet. Am Ende des Gespräches schenkt er uns die ganze Packung Erdbeeren! Wir machen noch ein Selfie, dann düst Bram weiter. An dieser Stelle nochmal eine Entschuldigung an Brams Eltern, die unseretwegen auf ihren Nachtisch verzichten mussten!
Noch 30 km liegen vor uns. Es ist 16:00 und die Sonne knallt vom Himmel. Wir haben einige Liter an Trinkwasser dabei, da es in der Bivakzone vermutlich kein Wasser geben wird. Während einer kurzen Pause merkt Joel, dass mein Rucksack vollkommen durchnässt ist – eine der Wasserflaschen war ausgelaufen. Wir begutachten den Schaden und trocknen unsere Habseligkeiten so gut wie möglich, jedoch werden unsere Trinkwasservorräte nun wirklich knapp.
In einem kleinen Dorf fragen wir eine ältere Dame, die gerade ihre Blumen gießt nach Wasser. Sie spricht nur Flämisch aber wir können uns mit Englisch, Deutsch und Flämisch insgesamt einigermaßen gegenseitig verstehen. Sie bittet uns herein und wir unterhalten uns am Esszimmertisch mit ihr und ihrem Mann, der einige Brocken Englisch spricht, während sie unsere Wasserflaschen auffüllt.
Die beiden wohnen schon ihr ganzes Leben lang in diesem Dorf, die Tochter im Haus nebenan. Er erinnert sich, dass vor vielen Jahren mal ein Pärchen aus England mit einem Motorrad im Dorf vorbeigekommen war. Sie hatten ihn um Hilfe gebeten und zusammen hatten sie das Motorrad repariert.
Ein unplanmäßiger Halt
Erfrischt fahren wir weiter. Wir gelangen von Fahrradwegen an größeren Bundesstraßen schließlich zu einem malerischen geteerten Radweg an einem Fluss entlang. Auf der anderen Seite des Ufers schaukeln Kanus im Wasser auf und ab, eine Familie mit Hund planscht im seichten Wasser, das über eine kleine Bucht erreicht werden kann. Das kühle Nass sieht so verlockend aus, wir müssen jedoch weiterfahren, denn wir wollen unser Ziel möglichst vor Sonnenuntergang erreichen.
Der Weg ist vollkommen eben, dennoch fällt mir das Treten immer schwerer. Mein Tacho zeigt mir nur 14,5 km/h an, obwohl wir gerade sogar mal keinen Gegenwind haben! Joel ruft: “Come on, Beanie!” Doch ich schnaufe: „Tut mir leid, mehr geht echt nicht.“ Ich werfe einen Blick auf meinen Vorderreifen, da geht mir ein Licht auf: So ein Mist. Der zweite platte Reifen in zwei Wochen! Das hat uns gerade noch gefehlt.
Aber es hilft nichts: Ab an den Wegrand und Reifenwechsel. Wir sind müde, also machen wir uns gar nicht erst die Mühe, nach dem Loch zu suchen. Der alte Schlauch wird durch einen neuen ersetzt und zack fertig. Naja, nicht ganz, denn Joel hat zwar eine neue (“ganz tolle!”) Luftpumpe gekauft, aber die Bedienungsanleitung vorher nicht gelesen. Nun haben wir zwar eine neue Pumpe, welche jedoch partout nicht auf unser französisches Ventil passen will (Anmerkung: Inzwischen wissen wir, wie die Pumpe funktioniert und sie ist wirklich ziemlich gut…). Zum Glück steckt die alte Luftpumpe noch in unserem Gepäck – ganz unten in der Satteltasche.
Nach einer verlorenen Stunde geht es weiter. Noch 10 km. Noch 5 km. Es ist nur noch stumpfes Treten. Schließlich zweigen wir ab auf einen unscheinbaren Waldweg und – tadaaa!
Ach du wilde Kuh!
Wir haben die Bivak-Zone gefunden, mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Es ist wirklich traumhaft schön. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages tänzeln durch das lichte Grün der umstehenden Bäume, während das hohe Gras sanft im Wind rauscht. Es gibt eine kleine Feuerstelle und eine hölzerne Plattform, aus der schon einige Balken ausgebrochen sind. Man hört nichts als das Waldrauschen und das Zwitschern der Vögel.
Leider funktioniert die Wasserpumpe tatsächlich nicht. Wir benutzen ein paar Feuchttücher, mit denen wir uns nach diesem heißen und schwitzigen Tag notdürftig “waschen”, bauen das Zelt auf und ich fange an zu kochen während Joel das Zelt einrichtet.
Plötzlich hören wir Geräusche, als ob sich jemand durch das hohe Gras bewegen würde. Weitere Reisende?
Nein, als wir durch das Dickicht spähen, sind ein paar Kühe in einiger Entfernung zu sehen. Kühe im Wald? Joel checkt die Lage und ist beruhigt: die Tiere sind durch einen Zaun von uns getrennt. Zwei Minuten später kommt dann doch eine Kuh auf die Lichtung getreten und mampft ganz unschuldig ein paar Grashalme. Ein Loch im Zaun?
Naja, denke ich, es ist ja nur eine Kuh, die wird uns schon nicht fressen. Aber Joel macht sich sichtlich Sorgen. (Vor allem darum, dass die Kuh in der Nacht unser Zelt anknabbern oder sich darauf legen könnte…) Die Kuh kommt neugierig näher und begutachtet unser Zelt, irgendwann macht sie jedoch kehrt und verschwindet wieder in die selbe Richtung, aus der sie gekommen war.
Nach einer Weile wird auch den anderen Kühen langweilig, sie drehen ab und stapfen durch den Wald davon. Unsere neue Freundin bleibt als einzige zurück – und gerät in Panik. Anscheinend kann sie das Loch im Zaun, durch welches sie entwischt war, nun nicht mehr finden. Sie startet einen Versuch, über den Zaun zu springen, scheitert aber und gallopiert am Zaun entlang, weiter in den Wald hinein. Als die Hufschläge kurze Zeit später nicht mehr zu hören sind, inspiziert Joel den Zaun auf der Suche nach einem Defekt.
Da wird das Hufgetrampel wieder lauter – Mrs. Kuh kommt zurückgalopiert und Joel muss aus dem Weg hechten, um nicht totgetrampelt zu werden!
Man kann nur hoffen, dass unser Zelt nie im Weg einer Kuh steht, die in Panik gerät. Ein lautes Krachen: Die Kuh hat den Zaun beim Versuch des Überquerens komplett zerstört und ist nun zurück im Kreise ihrer Artgenossen. Eine spannende Begegnung.
Wir essen unser Risotto in der Abenddämmerung, während 1000 Mücken und Fliegen über unseren Köpfen schwirren (wir haben kein Mosquitospray – Joel meinte sowas braucht man in England nicht). Als wir unsere Zähne putzen und ins Zelt steigen wollen, kreuzen einige Rehe in etwa 10 Meter Entfernung die Lichtung. Genug Tiere für heute. Gute Nacht.
Und plötzlich - nass
Ich habe erstaunlich gut geschlafen, keine Kuh hat unser Zelt angeknabbert oder unser Essen gestohlen. Die Sonne scheint und wir packen unsere Sachen zusammen. In der Ferne hört man Gewittergrollen.
Fast alles ist gepackt (zum Glück auch das Zelt), als es plötzlich so heftig anfängt zu gießen, dass innerhalb weniger Minuten unsere Handtücher, Klamotten und alles was sonst noch so rumliegt (inclusive meiner Kappe Clementine) völlig durchnässt sind. Zwei Minuten später scheint die Sonne wieder. Danke für nichts! Heute fahre ich ohne Cappy, während Clementine auf dem Gepäckträger trocknet.
Immer weiter durch Belgien
Da unsere Wasservorräte fast aufgebraucht sind, wollen wir Nachschub in einem kleinen Laden in Ursel besorgen. Als wir dort ankommen, macht eine Mitarbeiterin gerade sauber. Am Montag habe sie geschlossen, ruft sie uns zu.
Sie wirft einen Blick auf unsere Fahrräder (und unsere verzweifelten Gesichter) und meint: “Nagut, was braucht ihr denn? Wasser und Kekse kann ich euch verkaufen!” Super, das ist alles was wir brauchen! Und mit vollen Wasserflaschen fahren wir weiter Richtung Gent. Ein grünes Schild am Straßenrand weist uns den Weg: Gent 10 km. Nach weiteren 5 km am selben Kanal entlang sehen wir dann das nächste Schild: Gent 10 km. Joel flucht: “Wenn noch so ein Schild kommt auf dem “Gent 10 km” steht dann reiß ich es raus und schmeiß es in den Fluss!!” Er hatte heute noch keinen Kaffee getrunken.
In Gent angekommen sind ebenfalls fast alle Läden geschlossen (Montag scheint hier ein beliebter Ruhetag zu sein…), jedoch finden wir um die Mittagszeit in der Nähe des Bahnhofes eine Fritterie, in der wir eine riesen Ladung Pommes, Kaffee und Cola für unter 10 € bekommen. Super! Wir essen uns satt und machen uns auf die Socken – die Gegend ist etwas zwielichtig und die Menschen die uns umgeben trinken um 12:00 7% starkes Bier, verbrennen 20€ Geldscheine und rufen Menschen mit schwarzer Hautfarbe (vermutlich) blöde Sprüche nach.
Nach 20 weiteren Kilometern mit abwechslungsloser Landschaft (dafür aber fast kein Gegenwind) kommen wir am frühen Nachmittag am Campingplatz Groenpark an. Ich bin ganz schön müde und mache einen kurzen MIttagsschlaf im Zelt.
Ich wache auf und Joels Fahrrad steht nicht mehr vor dem Zelt. Hatte er nicht gesagt, er wolle nur duschen gehen? Mist, denke ich, jemand muss das Fahrrad geklaut haben! Während ich im Zelt geschlafen habe! Wie konnte das passieren?
Wenige Minuten später stellt sich heraus, dass Joel tatsächlich nur kurz einkaufen war.
Wir trinken Bier in unseren Campingstühlen am Fluss und relaxen ein bisschen, nach dem gestrigen Tag haben wir das auch bitter nötig!
Belgische Pralinen
Was uns in Erinnerung bleibt, wenn wir an Belgien denken? Die vielen Automaten unterwegs. Es gibt Automanten für alles: Meistens für Brot und Erdbeeren, aber auch für Eier, Käse, Wurstwaren und Pralinen. Pralinen? “Halt mal kurz”, rufe ich Joel zu, “da ist ein Pralinenautomat! Wollten wir Luise und Eric nicht was aus Belgien mitbringen??”. Und was wäre da besser geeignet als belgische Pralinen aus einem Automaten?
Wir halten also vor dem Valentino-Geschäft an und es dauert eine Weile, bis wir der flämischen Bedienungsanleitung die Funktionsweise der Maschine entnehmen können. Zu lange, anscheinend, denn die Verkäuferin kommt aus dem Geschäft und fragt uns, ob wir Hilfe benötigen (da wir das ganze gerade auf Video aufnehmen, verhalten wir uns wahrscheinlich etwas seltsam und die Verkäuferin verschwindet wieder zurück in ihr Geschäft, nachdem wir ihr versichert hatten, dass alles in Ordnung sei).
Nach einem (erfolgreichen) Pralinenkauf gehen wir in den (wunderbar klimatisierten) Laden, um der Verkäuferin zu erklären, warum wir so lange vor dem Automaten standen. Hinter der Theke wartet eine riesige Auswahl an Pralinen! Wir müssen einfach eine probieren (so als kleine Stärkung…). Ich nehmen eine mit “Apple Pie” Geschmack und Joel Crème Brulée. Wir wollen bezahlen, die Verkäuferin winkt ab und meint: „Geht aufs Haus!“
Zurück auf Anfang
Nach einer weiteren Nacht auf einem (etwas heruntergekommenen) Campingplatz und einer weiteren in einer Biwak-Zone (diesmal mit funktionierender Wasserpumpe – herrlich!) geht es nach 5 Tagen Belgien wieder zurück nach Deutschland. Zum Junggesellinnenabschied von meiner Freundin Maggi. Und so heizen wir am Donnerstag Morgen in 3 Stunden 20 Minuten die 50 km und 500 Höhenmeter von Hoeselt durch Maastricht nach Aachen hinauf. Um 12:40 sind wir wieder in Deutschland!
Einen Blogartikel zu schreiben ist sehr zeitaufwendig und wir sind beim Posten auf gutes Internet angewiesen, sodass unsere Erlebnisse hier oft einige Wochen zurückliegen. Wo wir aktuell sind, könnt ihr auf dieser Karte bzw. über unseren Instagram-Account verfolgen!