Auf der Zielgeraden nach Istanbul
Highway, Metropole und das Ende der Welt
Die letzten Kilometer nach Istanbul werden nochmal hart.
Wir kämpfen auf einem Highway gegen den stetigen Gegenwind an, werden in einen verrückten Streit über Katzen verwickelt und verlieben uns in Istanbul. Mit Pauken und vibrierenden Bässen verlassen wir die Türkei wieder in Richtung Rodos. Viel Spaß beim Lesen!
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Inhaltsverzeichnis
- Das Tor zum Orient
- Kulinarisch unterwegs in Ipsala
- Gesten der Freundlichkeit
- Wieder kulinarisch unterwegs
- Eine hart-erarbeitete Simkarte
- Alléz les Bleus
- Übertroffene Erwartungen
- Couchsurfing bei Onur und Veste
- Ein Mittagessen kommt selten allein
- Erol’s (Bikepacker)-Aufnahmestation
- Von zu großen Hotels und zu kleinen Aufzügen
- Geschafft!
- Einfach mal nach Asien
- Mit dem Nachtbus nach Marmaris
- Ein Abschied mit Pauken und vibrierenden Bässen
Einige Namen in diesem Artikel wurden zum Schutz von Persönlichkeitsrechten geändert.
Das Tor zum Orient
Wir Ausländer, wir Nix Türkisch!
Etwas eingeschüchtert von den Grenzposten mit Maschinengewehren, trauen wir uns nicht, diesen wunderbaren Anblick zu fotografieren. Ein unproblematischer Check unserer Papiere und eine schwer bewachte Brücke über den Grenzfluss Meriç Nehri später sind wir in der Türkei!
Von einer lange zurückliegenden Türkei-Reise glaube ich mich an das Wort für “Hallo” erinnern zu können: Günaydın. Und so rufen wir den Grenzbeamten rechts und links von uns ein fröhliches Günaydın zu. Der Haken: Wie sich später herausstellt, bedeutet Günaydın „Guten Morgen“ und nicht „Hallo“ – es ist bereits 15:00. Das würde dann auch das Schmunzeln der Einheimischen erklären.
Willkommen in der Türkei!
Nach dem erstaunlich pompösen Grenzgebäude wirkt das Landschaftsbild nun eher trist. Um uns herum schaut man endlos weit auf abgeerntete Getreidefelder. Schwarze Raben picken sich übrig gebliebene Körner von den Feldern und von der Straße. In der Luft liegt Rauch von zahlreichen kleinen Feuern, auf denen die Bauern Stroh und Unkraut verbrennen.
Kulinarisch unterwegs in Ipsala
Auf dem breiten Seitenstreifen der zweispurigen Autobahn kämpfen wir uns gegen den starken Wind einige Kilometer weiter bis in die Grenzstadt Ipsala. Wir haben beschlossen, bis Istanbul nicht mehr wild zu campen. Das liegt einerseits an der aktuell angespannten Flüchtlingssituation an der türkischen Grenze, andererseits aber vor allem an den streunenden Tieren.
Rückblick
Bei Kavala in Griechenland hatten wir den perfekten Platz zum Wildcampen gefunden. Um Mitternacht schreckten wir beide aus dem Schlaf hoch, als von draußen ein bellendes Heulen immer näher an unser Zelt kam. Wir waren auf einem Berg mitten im Nirgendwo und wussten nicht, wie wir reagieren sollten.
Also machten wir Licht und berieten uns in normaler Lautstärke. Daraufhin entfernte sich das bellende Tier langsam wieder. In den nächsten zwanzig Minuten ging es so weiter – das Bellen kam näher und entfernte sich wieder. Schließlich verschwand es ganz. Aber es hörte sich aggressiv und gruselig an. Ob es ein Hund, ein Koyote oder ein Wolf war, wissen wir nicht. Aber die Erfahrung reichte, um uns das Wildcampen erstmal zu verderben!
Doch hier ist das Campen sowieso schwierig, denn es gibt keine Bäume oder Berge, zwischen denen man Schutz suchen könnte. Zu unserem Glück bekommen wir im Parkhotel Ipsala für 36€ ein sauberes Zimmer mit Frühstück. Das hat den Vorteil, dass wir am Abend die Möglichkeit haben, Ipsala unsicher zu machen!
Und wie könnte man besser in eine neue Kultur eintauchen, als die lokale Küche zu genießen? Es gibt also Lahmacun (Lach-ma-dschun) und Pide in einem kleinen Restaurant, serviert mit frischen Kräutern und Salat. Für umgerechnet 6€ inklusive Getränke werden wir uns das sogar öfters leisten können! Es scheint gerade Wassermelonenzeit zu sein: Um uns herum verkaufen Bauern ihre Früchte direkt von den Anhängern herunter. Natürlich werden auch gleich die lokalen Supermärkte ausprobiert: Bim wird unser neuer Lieblingsdiscounter. Nach Wucherpreisen in Griechenland können wir uns nun endlich wieder Süßigkeiten leisten. Ja ok, endlich wieder MEHR Süßigkeiten meine ich! Für heute Abend wird’s eine Packung mit Haribo-Spiegeleiern*.
Gesten der Freundlichkeit
Nach einem Frühstück aus Oliven, Käse, gekochtem Ei, Marmelade, Toast und Tee machen wir uns wieder los: Dieselbe zweispurige Autobahn, derselbe Gegenwind, dieselbe triste Landschaft. Obwohl wir nicht viele Kilometer und Höhenmeter überwinden müssen, wird das Fahrradfahren in diesen Tagen zur Qual. Wir sind froh, dass wir wenigstens uns haben und zusammen über den “blöden Wind” ablästern können.
Ein Lichtblick: Die Gastfreundschaft der Menschen. Die wohl schönste Geste sehen wir nicht kommen. Als wir uns so nichts ahnend über den Highway quälen, hält ein LKW vor uns an. Der Fahrer hält zwei Rollen Kekse aus dem Fenster, die wir uns im Vorbeifahren schnappen. Freudestrahlend und winkend fahren wir weiter. Der LKW überholt uns wieder – er hatte nur für uns gehalten! Zu zwei weiteren Gelegenheiten bieten uns LKW-Fahrer an, uns mitsamt unserer Räder bis nach Istanbul mitzunehmen. Menschen am Straßenrand winken uns freundlich zu und laden uns zum Tee ein!
Wieder kulinarisch unterwegs
In Malkara schleppen wir uns noch einen letzten Killer-Berg hoch, bevor wir in der kleinen verwinkelten Altstadt ankommen. Wir übernachten heute wieder in einem Hotel, diesmal für knapp 30€. Und so haben wir wieder die Möglichkeit, das kleine Städtchen zu erkunden. Zum Abendessen gibt es heute Dürüm Kebap und Ayran. Der Besitzer bereitet die Fladenbrote für den Dürüm frisch vor unseren Augen zu. Am Ende wird das ganze noch mit Butterschmalz bestrichen. Ich habe noch nie einen so guten Dürüm-Wrap – und bis jetzt auch danach nicht wieder – gegessen! In einer kleinen Patisserie kaufen wir noch eine Plastikschale mit Gebäck: Etwa 10 frittierte Bällchen mit Zuckersirup übergossen. Und das für 10 Lira, umgerechnet 60 Cent. Wir hätten mehr davon kaufen sollen, findet Joel danach.
Eine hart-erarbeitete Simkarte
Am nächsten Morgen bepacken wir unsere Räder vor dem Hotel auf dem engen Bürgersteig. Über die Reaktionen der Einheimischen müssen wir schmunzeln. Klar ist, dass in einem kleinen Örtchen wie diesem selten “exotische Attraktionen” wie wir vorbeikommen. Doch entweder werden wir von den Fußgängern komplett ignoriert, als seien wir gar nicht da oder die Menschen bleiben in einiger Entfernung stehen und starren uns minutenlang unverhohlen an. Dazwischen gibt es nichts.
Bei Turkcell besorgen wir uns eine türkische Simkarte mit mobilen Daten. Dabei ist Joel tatsächlich so dreist und belabert den Geschäftsführer, bis er uns einen Kaffee bringt. Das mit der Karte gestaltet sich dann schwieriger als gedacht. Wie erstaunlich viele junge Menschen in der Türkei spricht die Mitarbeiterin wirklich überhaupt kein Englisch. Zum Glück gibt es Google Translate. Nachdem wir eine Menge seltsamer Dinge gefrag werden (z. B. Vorname der Eltern) sind wir eine Stunde später stolze Besitzer einer türkischen Simkarte.
Alléz les Bleus
Wir sind zurück auf dem Highway. Zum penetranten Gegenwind hinzu wird die Landschaft nun auch noch bergiger. Langsam fühlen wir uns ziemlich ausgelaugt. Am Mittag suchen wir vergeblich nach einem geeigneten Ort für eine Pause. Schließlich halten wir in einer kleinen Parkbucht zwischen ein paar Bäumen. Hier hat wohl mal eine Raststätte gestanden, von der jetzt nur ncoh die Grundmauern übrig sind. Auf dem mit Laub bedeckten Boden liegen haufenweise Taschentücher, Plastikflaschen, Verpackungen und sonstiger Müll. Naja, wenigstens windstill, denken wir uns und rollen die Yogamatte auf einer Mauer aus, um nicht im Müll sitzen zu müssen. Und dann ruft plötzlich jemand aufgeregt: “Heeeeey!!”.
Kevin, ein Bikepacker wie wir, hat sich auch ausgerechnet diese Parkbucht für seine Mittagspause ausgesucht. Was für ein Zufall, denn sehen konnte er uns von der Straße aus nicht. Kevin ist ungefähr genauso froh, wie wir, auf Gleichgesinnte zu stoßen. Wir tauschen ein paar Süßigkeiten mit dem Franzosen aus, beklagen uns gemeinsam über den üblen Gegenwind und fahren dann zusammen weiter. Das heutige Tagesziel ist Tekirdağ. Plötzlich ist alles viel schöner: Die Aufstiege leichter, die Abfahrten witziger und die Pausen unterhaltsamer.
Wir haben noch eine Frankreich-Flagge übrig*, die Kevin sich stolz an sein Rad drapiert (Alléz les Bleus!). In Tekirdağ trennen sich unsere Wege. Kevin, der Verrückte möchte am Folgetag die ca. 150 km bis nach Istanbul durchfahren, sodass wir uns für diese Etappe der Reise verabschieden. Aber man sieht sich ja bekanntlich immer zweimal im Leben! Am nächsten Tag können wir über Instagram live mitverfolgen, wie Kevin um 05:00 morgens losfährt und nach ca. 13 Stunden tatsächlich in Istanbul ankommt.
Übertroffene Erwartungen
Als wir beim Hotel 12 Rooms ankommen, sind unsere Erwartungen nicht besonders hoch. Das Gebäude liegt inmitten eines Industriegebietes. Joel hat es ausgesucht, weil es fußläufig zum Studentenviertel von Tekirdağ ist. Hier werden wir uns morgen mit unserem Couchsurfing-Host Onur treffen. Im Hotel haben wir Glück: Es gibt noch ein letztes freies Zimmer für etwa 35€, das jedoch noch nicht geputzt ist. Macht nichts, wir warten im kleinen ruhigen Hof und bekommen sogar einen Espresso für die Wartezeit. Dann ist es soweit und wir dürfen unsere 1000 Fahrradtaschen durch die engen Hotelflure schleppen. Doch es lohnt sich: Das “Zimmer” ist unglaublich: Es handelt sich um eine ganze Suite mit Schlafzimmer, Wohnküche und Bad. Wir haben einiges erwartet, aber nicht das! Nach dem kräftezehrenden Tag sind wir allerdings so kaputt, dass wir hauptsächlich vom Sofa Gebrauch machen.
Couchsurfing bei Onur und Veste
Für den nächsten Tag haben wir seit längerer Zeit mal wieder eine Unterkunft über Couchsurfing gefunden. Da Onur erst am Nachmittag Zeit hat, setzen uns in ein Café. Etwa zehn Minuten später nähert sich ein junges Pärchen von hinten. “Are you Joe?”, fragt die Frau an Joel gerichtet. Es dauert einen Moment bis wir begreifen, was Sache ist. Vor uns stehen Onur und Veste, unsere Couchsurfing Hosts, die zum Arbeiten zufällig in genau dieses Café kommen! Kurz darauf stößt auch ein weiterer Couchsurfer, Balthasar aus Schweden, zu uns. Wir drei quatschen und trinken Cai, während unsere Gastgeber in einer anderen Ecke des Cafés arbeiten.
Balthasar kommt gerade per Anhalter aus Griechenland und ist überwältigt von der Gastfreundschaft der türkischen Menschen. Normalerweise dauere es einige Stunden, bis ihn jemand mitnehme, meint er. Als er heute morgen in der Türkei angekommen sei, habe man ihm sofort eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Uns wird wieder bewusst, wie langsam wir reisen: Für die Strecke, die Balthasar heute vormittag zurückgelegt hat, saßen wir vier Tage im Sattel.
Wir verbringen einen schönen Abend mit Onur, Veste und Balt. Es wird zusammen gekocht und obwohl Balt die Bohnen kräftig versalzt, schmeckt es allen gut. Es stellt sich heraus, dass Veste Medizin studiert und für ihre Neurologie-Prüfung am nächsten Tag lernt. Sie ist mit den Nerven ziemlich am Ende, ich fühle mich in mein eigenes Studium zurückversetzt. Es ist schön, mal wieder ein bisschen über Medizin zu sprechen, doch Veste hat leider nicht viel Zeit.
Am Morgen macht Onur uns Frühstück: Gegrilltes Brot mit türkischem Fetakäse und Oliven lecker!!
Ein Mittagessen kommt selten allein
Es nieselt als wir losfahren und Überraschung: Wir haben mal wieder Gegenwind. Was sich aber verändert, ist die Landschaft: Die brachliegenden Felder weichen immer mehr Industriegebäuden und Wohnhäusern, die Dörfer am Straßenrand verdichten sich zu Städtchen. In Marmara Ereğlisi (ein Name mit sieben Silben! Zungenbrecher!) essen wir vor einem kleinen Dönerladen an der Straße Dürüm zu Mittag. Vom Geruch angezogen, versammelt sich die gesamte Gemeinschaft an streunenden Tieren, die der Ort zu bieten hat. Ein kleines Kätzchen, nicht älter als zwei Monate, sucht auf meinem Gepäckträger Schutz vor dem Wind.
Am Nachmittag erreichen wir Silivri, wo wir über warmshowers.org eine Übernachtungsmöglichkeit bei Erol gefunden haben. Zu unserer Überraschung befindet sich Erol’s Haus innerhalb einer eingezäunten Siedlung. Der Wachfrau am Eingang sagt Joel nur: “Wir wollen zu Erol”. Sie spricht kurz etwas in ihr Walkey Talkey, dann dürfen wir passieren. Seltsam, denke ich, dass die Dame nur durch den Vornamen genau weiß, wo wir hinwollen? Es sollte schon bald klar werden, wieso.
Erol's (Bikepacker-) Aufnahmestation
Wir kommen an einem großen, zweistöckigen Haus mit Garten und Pool an. Dass wir am richtigen Haus sind, wissen wir sofort. Durch die großen Fenster ist ein Gefährt sichtbar, das aussieht wie ein Fahrrad mit Dach. Wir werden hereingebeten und wissen nicht recht, wer von den vier Personen im minimalistisch eingerichteten Wohnzimmer nun Erol ist. Zwei junge Männer scheinen an einem großen Esstisch an ihren Laptops zu arbeiten. Ein älterer Mann stellt sich als Nicola, Besitzer des Gefährts vor.
Schließlich stellt sich uns jemand als Erol vor: Ein enigmatischer Unternehmer, dessen Alter sich nur schwer schätzen lässt. Während er mit uns redet, läuft er unentwegt auf und ab, sodass wir unsere Köpfe drehen müssen, um zu folgen. Ein Jahr zuvor hatte er angefangen, Fahrradreisende aufzunehmen. Nun, so sagt er, mache er einfach weiter, weil er so viele Anfragen bekomme. Zusätzlich gewährt er zwei jungen russischen Männern seit einigen Wochen Unterkunft. Die beiden sind Bekannte seiner Anfang zwanzigjährigen Freundin Natascha.
Was genau Erol beruflich macht und wie er sich diesen Lebensstil leisten kann, werden wir allerdings nicht erfahren. Zwar zeigt er uns stolz alle möglichen Projekte in seinem Haus – einen Raum für Fotoshootings, einen 3D Drucker und eine Art kompostierbares Plastik – was er aber nun genau macht, darüber lässt er uns im Dunkeln tappen. Wie allen Reisenden überlässt Erol uns ein eigenes Schlafzimmer mit Badezimmer. Wir sind beeindruckt von der Gastfreundschaft. Als Dank schlagen wir ihm vor, für ihn und die ganze Gruppe zu kochen. Erol winkt jedoch ab und meint ach nein, jeder würde hier sein eigenes Ding machen. Wir könnten uns aber ruhig Suppe nehmen, es stehe noch etwas auf dem Herd.
Türkische Pizza und etwas zum Nachdenken
Wir kommen mit Arkadius und Sasha, den beiden Russen, ins Gespräch. Arkadius spricht sogar ein bisschen deutsch. Er erzählt, dass er Russland nach Bekanntgabe der Generalmobilmachung verlassen hat. Seine Frau und seine kleine Tochter seien noch dort. Was er als nächstes macht, weiß er noch nicht. Ein Visum in Europa wäre schön. Ich merke, dass ich zunächst Vorurteile gegen die Beiden habe. Weil sie ihr Land verlassen, anstatt gegen die aktuelle Ungerechtigkeit aufzustehen. Ich denke viel darüber nach.
Wir erwarten von Menschen wie Sasha und Arkadius, dass sie sich gegen ihr Regime erheben und damit ihre gesamte Zukunft aufs Spiel setzen. Wie würden wir in einer ähnlichen Situation reagieren? Würden wir uns widersetzen? Oder würden auch wir unserem Land den Rücken kehren? Haben wir eine Verantwortung dafür, was der Staat tut? Je länger wir uns mit Arkadius und Sasha unterhalten, desto mehr merke ich, dass auch sie Opfer eines Regimes sind. Auch wenn es vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Zusammen mit Arkadius und Sasha gehen wir zu einem kleinen Pide-Restaurant in der Nähe. Ein älterer Türke, traditionell gekleidet in Gewand und Hut, nimmt unsere Bestellung entgegen. Er bereitet die türkische Pizza vor unseren Augen zu, bevor er sie in einen traditionellen Holzofen schiebt. Nichts passt besser als Pide und ein kühles Bier, das wir gemeinsam vor dem kleinen Laden verzehren.
Es ist eh alles vorbei, macht euch keine Sorgen!
Zurück in der Bikepacker Aufnahmestation zeigt sich, dass Erol ein wahrer Verfechter einer durch künstliche Intelligenz kontrollierte Zukunft ist. An seinem Computer zeigt er mir fasziniert eine neue Technik, mit der man aus Stichworten künstliche Bilder erzeugen kann. Natürlich probiere ich das aus. Aus einer “hölzernen Loft am See, futuristisch” werden verschiedenste Bilder erzeugt. Ich scheine jedoch nicht begeistert genug zu reagieren, denn Erol fordert mich dazu auf, den Wikipedia-Artikel über die Stable Diffusion zu lesen. (Nach ca. drei Zeilen gebe ich auf, wie viel versteht ihr?).
Daraufhin hält er einen längeren Monolog über die Zukunft der Welt. Sein Lieblingssatz: “Es ist eh schon alles vorbei, macht euch keine Sorgen!” Während Joel und ich angestrengt zu folgen versuchen, hat sich der Rest der Truppe bereits ausgeklinkt. Sie scheinen dieses Thema bereits zu kennen. Als der Genussmittelkonsum zunimmt, wird auch die Debatte heißer und schließlich wird es nahezu brenzlig: Es geht um Katzen. Und darum, ob sie ein Gewissen haben.
“Haha”, lacht Joel, “Katzen haben doch kein Gewissen!! Das sind Tiere!” Plötzlich steht Erol direkt vor Joels Gesicht: “Du glaubst also, dass Katzen kein Gewissen haben? Ja? Wirklich? Weißt du was? F*** dich, f*** dich, f*** dich!!!” Für eine kurze Zeit sagt niemand etwas. Dann rudert Joel zurück und die Lage entspannt sich wieder. Puh. Für einen kurzen Moment hatte ich gedacht, wir müssten auf der Straße schlafen.
Der Blitz schlägt nicht zweimal an der gleichen Stelle ein
Aber wer jetzt denkt, das sind genug verrückte Geschichten für einen Abend, der hat sich getäuscht. Denn jetzt möchte ich noch kurz von Nicola erzählen. Genau, der Mann mit dem überdachten Fahrrad, genannt Quad. Denn Nicola erzählt uns an diesem Abend seine Geschichte. Und die ist unglaublich.
Nicola, so könnte man im Bikepacker-Jargon sagen, ist ein alter Hase. Der Italiener ist schon seit Jahren alleine mit seinem Rad unterwegs. Als er 2019 durch Mali radelte, wurde er plötzlich von zwei bewaffneten Motorradfahrern dazu gezwungen, anzuhalten. Dann wurden ihm die Augen verbunden und er wurde verschleppt. “Ich wusste”, erzählt er, “entweder töten sie mich sofort, oder ich werde entführt.”
Was dann folgte, war eine Tortur, die 20 Monate lang dauern sollte. Nicola wurde an verschiedene Orte gebracht und sah schreckliche Dinge. Erst 2020 wurde er gemeinsam mit einem Priester, einem Politiker und einer französischen Sozialarbeiterin freigelassen. “Was hast du den ganzen Tag gemacht, während du gefangen warst?”, fragt Joel. “Ha, das ist einfach”, lacht er bitter, “nichts. Das waren Islamisten, da ist alles verboten. Sport verboten, Lesen verboten, Lachen verboten, Tanzen verboten, Alkohol verboten.” Aktuell ist Nicola mit seinem Rad auf dem Weg nach Vorderasien. Ob er keine Angst habe, nachdem er ein Kidnapping überlebt habe? Er winkt ab. “Der Blitz schlägt nicht zweimal an der selben Stelle ein, Kumpel!” Alle sind sichtlich perplex.
Von zu großen Hotels und zu kleinen Aufzügen
Immer öfter gibt es keinen Seitenstreifen mehr auf der vielbefahrenen D100. Das Radfahren wird zur Konzentrationssache. An der Messe angekommen erwartet uns ein Labyrinth aus Straßen, Parkplätzen und himmelhohen Gebäuden. Es herrscht reges Treiben und wir quetschen uns durch eine Vielzahl von parkenden Autos hindurch, bis wir unser Hotel finden.
Unser Hotel? Wir sind ziemlich überrascht, dass sich unser über Airbnb gebuchtes Zimmer in einem etwa 18 stöckigen Hotel befindet. Genauso überrascht sind wir vom Erdgeschoss: Denn hier reihen sich in den einzelnen Zimmern die Büros von dutzenden kleinen Firmen, die jeweils einige Zimmer in diesem Gebäude vermieten. Der Vermieter unserer Zimmer ist allerdings nicht weniger überrascht: Zwei Fahrräder? Wo soll er die denn unterbringen? Zunächst schlägt Joel die Tiefgarage vor, doch da gibt es keinen Platz für Räder. Schließlich kann er den Mann überreden, dass wir unsere Drahtesel einzeln in den viel zu engen Aufzug quetschen und mit ins Zimmer nehmen dürfen. Sehr zum Unmut der vielen Messegäste, die unseretwegen ziemlich lange auf den Fahrstuhl warten müssen.
Die Rückwärts-Rolltreppe
Um nicht einen 200 Meter längeren Umweg nehmen zu müssen, hat Joel eine glorreiche Idee: Eine Überführung führt über die 8-Spurige Straße auf die andere Seite. Kleiner Haken an der Sache: Unsere Räder passen nicht in den Lift. Übermütig läuft Joel mit seinem voll gepackten Rad auf die Rolltreppe zu. Die Treppe rollt nach oben. Das Fahrrad richtet sich steil auf, überschlägt sich durch das Gewicht des Gepäckträgers und schlägt mitsamt Joel eine Rückwärtsrolle! Gerade noch so kann er das Rad und sich von der Roll-Treppe rollen (haha Wortwitz). Die umstehenden Menschen, inklusive mir, schauen ihn für einen Moment entgeistert an. Dann fängt er an zu lachen. Leute kommen, stellen sein Rad auf und helfen ihm auf die Beine. Zum Glück ist nichts passiert!
Trotzdem hat Joel leider gar nichts gelernt und startet sofort einen zweiten Versuch – diesmal mit Erfolg. Auf dem Fußgängerüberweg werden wir noch einige Male freundlich darauf hingewiesen, dass es ja einen Aufzug gäbe. Mist, hätten wir doch kleinere Räder gekauft!
Geschafft!
Habe ich schon erwähnt, wie groß Istanbul ist? Offiziellen Angabe zufolge ist die Metropole mit 15,9 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt in der Türkei und vier mal so groß wie Berlin. Und ganz ehrlich – genauso fühlt es sich auch an. Seit gefühlt 50 Kilometern fahren wir nun schon durch die Großstadt und im Zentrum sind wir immer noch nicht angekommen! Zum Glück spricht uns ein freundlicher Mann an, der uns erklärt: “Von hier aus könnt ihr immer am Wasser entlang bis in die Innenbezirke Istanbuls fahren!” Und er hat recht! Ab jetzt fahren wir sogar auf einem Fahrradweg am Wasser entlang. Danke für nichts, Komoot! “Ihr solltet bei mir im Restaurant vorbei kommen zum Essen, Gregor Gysi war auch schon mal da!” erwähnt der Mann noch hoffnungsvoll. Er hat ein Fischrestaurant. Da hat er sich leider die falschen Touris ausgesucht…
An welchem Punkt wir es ganz genau geschafft haben, ist unklar. Aber irgendwann entscheiden wir uns an einem ruhigen Ort mit der Skyline im Hintergrund: Jetzt!
Wir haben es geschafft!!
Wir sind von London nach Istanbul geradelt, haben 4500 Kilometer mit eigener Muskelkraft zurückgelegt, 5 Platte geflickt, Hitze und Gewitter ertragen und tausende Erfahrungen gesammelt.
Erste Etappe: Check!!
Einfach mal nach Asien
In Istanbul bleiben wir zwei Wochen. Zeit, unsere Akkus aufzutanken und mal nicht Fahrrad zu fahren. Dafür nutzen wir die günstigen Öffis in der Großstadt voll und ganz aus. Nachdem wir uns wie die letzten Touristen erstmal die falsche Istanbul-Card gekauft haben (weil wir den Automaten gewählt haben, auf dem groß ENGLISH steht…) genießen wir das große Netz aus Trams, Zügen, Bussen und natürlich: Fähren! Mit der Fähre können wir für knapp 2,50 € einfach mal rüber nach Asien fahren! Da trifft es sich super, dass dort, in Kayaköy, der perfekte Ort ist, um ein kühles Bier zu trinken.
Nur eine unangenehme Erfahrung machen wir: Auf dem Weg nach Taksim verliert ein Mann, der an uns vorbeiläuft, seine Schuhbürste. Joel hebt sie auf und trägt sie ihm hinterher. Der Mann bedankt sich daraufhin überschwänglich und besteht darauf, Joels Schuhe (Sneaker*) zu putzen. Wir stimmen zu und wir unterhalten uns ein bisschen mit dem Mann. Er besteht schließlich darauf, auch noch meine Schuhe zu putzen. Ich will nicht, doch Joel meint, komm, mach mit, wir gehen ja gleich.
Eine gefühlte Ewigkeit hantiert der Herr an meinen Schuhen herum (auch Sneaker*), ohne dass diese wirklich sauberer werden. Wir bedanken uns und Joel drückt ihm 60 tl (3,50 €) in die Hand. Daraufhin schüttelt der Mann den Kopf und ruft empört: “Nein, nein, der Service kostet 160 tl (9 €).” Ungläubig stellt Joel klar, dass ER doch dem Mann einen Gefallen getan habe, indem er seine Bürste aufgehoben hat. Schließlich wollte Joel sich ja die Schuhe gar nicht putzen lassen. Beleidigt zieht der Schuhputzer ab. Ein mieses Bauchgefühl bleibt trotzdem.
Istanbul, wir lieben dich!
Wir bekommen außerdem Besuch: Joels Vater macht gemeinsam mit uns für eine Woche die Stadt unsicher. Dabei kommen wir auch kulturell so richtig auf unsere Kosten. Wir besuchen die Hagia Sophia und den Grand Bazaar, besteigen den Camlica Hill und besuchen die Princes Islands. Istanbul hat einen ganz besonderen Flair und wird auch aus einem anderen Grund für immer einen ganz besonderen Platz in unserem Herzen haben…
Mit dem Nachtbus nach Marmaris
Die Pläne für den Winter stehen fest, sodass Anfang November klar ist: Wir müssen innerhalb von 7 Tagen im 800 Kilometer entfernten Marmaris sein, um eine Fähre nach Rodos zu erwischen. Mit dem Fahrrad ist das für uns utopisch, sodass wir uns für eine Reise mit dem Nachtbus entscheiden. Witzig, denke ich, mit dem Nachtbus sind wir im Mai in dieses Abenteuer gestartet und mit einem Nachtbus beenden wir nun unsere erste Etappe! Wir nehmen uns sogar die Zeit, einige Tage vor unserer Busreise zum Busbahnhof “otogar” in Istanbul zu fahren. Hier kaufen wir unsere Tickets und wollen sicherzustellen, dass eine Fahrradmitnahme möglich ist.
Zwischen ca. 100 Busunternehmen entscheiden wir und für Kamil Koç, den türkischen Partner von Flixbus. Einfach weil es das größte Unternehmen mit den meisten Bussen ist. Der junge Mann an der Rezeption spricht wie immer kein Englisch, sodass wir mit Google Translate und den Bildern unserer Räder auf dem Handy arbeiten. Nach einer längeren Diskussion erhalten wir die Antwort: Der Busfahrer kann Fahrräder mitnehmen. Allerdings gibt es keinen Vermerk auf unseren Tickets oder ähnliches. Naja, wird schon klappen.
Tatsächlich haben wir am Abend unserer Abreise keine größeren Probleme. Das Vorderrad der Räder muss zwar abmontiert werden, damit hatten wir jedoch im Vorfeld schon gerechnet. Der junge Busbegleiter, der uns beim Einladen hilft, geht anschließend mit Joel auf die Toilette, um sich die Hände zu waschen. “Der Busbegleiter wollte ein Trinkgeld für die Hilfe mit den Rädern”, erzählt Joel, “er wollte 200 tl (11 €), aber zum Glück hatte ich nur 120 tl (7 €).” Naja, es gibt halt nichts umsonst, wenigstens durften die Räder mit!
Ein Abschied mit Pauken und vibrierenden Bässen
In Marmaris können wir noch zwei Tage durchschnaufen, bevor es weiter nach Rodos geht. Wir haben die perfekte Ferienwohnung gemietet: Eine Dachgeschosswohnung mit einer großen Dachterrasse, von der aus man einen großartigen Blick über den Hafen hat. Im Vorfeld waren wir durch den Vermieter gewarnt worden, dass die Wohnung sich in der Bar Street befindet. Abends sei die Musik der umliegenden Bars sehr laut, sodass man möglicherweise nicht schlafen könne. Wir lassen uns darauf ein, denn die Bewertungen auf AirBnB sind durchweg positiv. Eine junge Familie hat sogar geschrieben, dass ihr Kind problemlos durchgeschlafen hat. Außerdem ist es November und wir erwarten nicht mehr allzu viele Touristen. Wie laut kann es schon sein?
Ganz ehrlich? Die Lautstärke ist nicht mal unser größtes Problem. Es stellt sich jedoch heraus, dass wir nicht nur in der Bar Street sind, sondern auch in der “Disko-Street”. Eine Diskothek befindet sich im Erdgeschoss unter unserem Schlafzimmer und die andere im Nachbarhaus. Der Lärm ist ohrenbetäubend, ja. Mit Ohrenstöpseln lässt sich die Lautstärke auf ein vertretbares Maß reduzieren. Aber unsere Oropax* helfen nichts gegen das Vibrieren der gesamten Wohnung.
Zum Glück ist um 01:00 Schluss. Für die zweite Nacht upgraden wir unsere Ohrenstöpsel in der Apotheke und ziehen mitsamt der Matratze aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer um. Damit entgehen wir immerhin der Doppelbeschallung, dem Vibrieren des Bettgestells und dem furchtbaren Musikgeschmack einem der DJs. Sein Lieblings-Effekt: Das Signalhorn. Sind wir auf Malle oder was?
Wir fragen uns, was das für ein Kind gewesen sein muss, dass hier die Nacht durchgeschlafen hat. Wenn es nicht schon vorher taub war, dann ist es das jetzt bestimmt.
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