Von Nachtbussen, Autofähren und Englischen Zügen
Der Beginn eines Abenteuers
“Irgendwas ist hier nass”
Joel wühlt in dem kleinen Reiserucksack. Er fischt einen Plastikbecher mit Obst heraus und stellt ihn auf die leicht in der Bewegung des Doppeldeckerbusses schwingende schwarze Plastikablage vor uns. Dutzende Stückchen Melone, Erdbeeren und Trauben folgen, die während unserer rasanten Fahrt zum Bahnhof wohl ihren Weg in die freie Rucksackhöhle gefunden hatten.
VerFLIXt-Bus nach Brügge
Na toll. Nun ist der ganze Rucksackstoff klebrig und unsere Desinfektions-Feuchttücher, die wir extra für ähnliche Zwecke eingepackt hatten, liegen im Gepäckraum des Busses, der Frankfurt gerade in nordwestliche Richtung verlässt.
Die gute Nachricht: Das Obst ist noch sauber und essbar! Und auch sonst wird uns nichts mehr die heutige Nacht verderben, denn wir haben es geschafft: Wir haben unsere Jobs gekündigt, unseren Hausstand aufgelöst, all unsere Sachen verschenkt oder verkauft und befinden uns nun auf dem Weg nach … Istanbul! Eigentlich. Denn als Joels Bruder sich entschied, diesen Sommer die Frau seiner Träume zu heiraten, hieß es erstmal umdisponieren. Und so befinden wir uns zwar aktuell auf dem Weg nach Istanbul, jedoch mit Zwischenstopp in England (liegt ja quasi auf dem Weg!) damit Joel seinem Bruder Elliot als Trauzeuge das beste Junggesellenabschiedswochenende ever bieten kann.
Nach unserer Wohnungsübergabe am Vortag waren wir bis zur Abfahrt unseres Nachtbusses nach Brügge noch bei Freunden untergekommen, um kurz nach 22:00 geht es dann los: Nach einigen Bemühungen schaffen wir es mit Ächzen und Schnaufen, je eine unserer Fahrradtaschen in unseren 60l Rucksäcken unterzukriegen. Wir merken schnell, dass zwei Satteltaschen à 25l + 9l Lenkertasche + Zelt + Rahmentaschen + 6l Trinkflaschen zu viel sind. Vielleicht hätten wir mal probepacken sollen. Es ist schon dunkel als wir uns mit den Riesen-Rucksäcken bepackt auf den Rädern vom Nordend auf zum Bahnhof machen. Es ist eine laue Nacht und es geht kein Windchen. Wir fahren unter orange-getönten Straßenlaternen und den sich endlos erhebenden Wolkenkratzern der Stadt vorbei. Ein Gefühl der Euphorie, endlich geht es los!
Für unsere Verhältnisse recht früh kommen wir am Bahnhof an und haben noch 20 Minuten, bevor der Bus abfährt. Ich lese mir die Infos in der Flixbus-App nochmal durch: der Bus ist pünktlich, bei internationalen Grenzübertritten wird ein Ausweisdokument benötig. Ausweisdokumente… wo waren die nochmal? Joel hatte mich doch heute mittag erst gefragt, wo er die verstauen sollte? Ich frage ihn. Er erinnert sich daran, mich gefragt zu haben. Aber nicht mehr daran, wo sie sind. Da hilft nur eins: Wir fangen an, unser gesamtes Gepäck auf dem Bussteig des Frankfurter ZOBs zu verteilen. Die etwa 20 Menschen die teils mit großen Koffern ebenfalls auf einen Bus warten sehen uns interessiert dabei zu. “Vielleicht haben wir sie auch auf der Küchenzeile in der Wohnung liegen lassen?”, grübelt Joel. Keine große Hilfe, danke. In der Zwischenzeit fährt einige Bussteige weiter unser Nachtbus N84 nach Brügge ein. Meine Hände fangen an zu zittern, als Panik in mir aufsteigt, dass wir diesen Bus verpassen. “Ich hab sie!”, ruft in diesem Moment meine bessere Hälfte und hält triumphierend das Mäppchen mit den Ausweisen hoch. Sie waren in der Tasche, die ich gepackt hatte.
Außer Atem am Bus angekommen wirft der Herr vom Buspersonal einen Blick auf unsere Räder und gibt uns zu verstehen, dass wir alle Taschen entfernen müssen, auch die Trinkhalterungen. Als die Räder dann nackt an den Bus montiert werden, verstehe ich auch warum: Die horizontale Halterung in die die Räder eingehängt werden sieht nicht sonderlich stabil aus. Als wir als Letzte in den Bus steigen sitzt natürlich jemand auf den Sitzen, die wir reserviert hatten. Joel bittet die Person, sich einen anderen Platz zu suchen; dies entpuppt sich jedoch als eine Kettenreaktion infolgedessen ca. 10 Personen ihren Platz wechseln müssen.
Ich habe kurzzeitig ein schlechtes Gewissen, dieses verschwindet aber sofort als wir uns in die bequemen dunklen Sitze in vorderster Reihe des Doppeldeckerbusses fallen lassen. Adrenalin rauscht durch meine Adern und ich kann nicht aufhören zu kichern, als wir Frankfurt in der Dunkelheit verschwitzt aber glücklich verlassen.
“Next Stop: Brugge, this is the last stop”, brummt es aus der Sprechanlage des Busses. Wir sind fast da, eine halbe Stunde früher als geplant. Die Busfahrt war erstaunlich unereignisreich verlaufen und sogar ein paar Stunden Schlaf waren drin gewesen. (Joels Schnarchen nach zu urteilen vielleicht auch etwas mehr!) Räder und Gepäck haben die lange Reise unbeschadet überstanden und wir fangen auf dem Busbahnhof, einem großen, menschenleeren Platz aus Beton, unsere Räder zu bepacken. Nachdem sich ein etwas verwahrloster Mann Mitte 50 bereit erklärt hatte, ein Bild von uns zu schießen, geht es los!
Oh wie flach ist Belgien
Auf den ersten hundert Metern wackelt mein Rad so sehr, dass wir mehrfach anhalten und Taschen neu montieren müssen. Wir fahren zunächst in das Stadtzentrum von Brügge. Es ist kühl, aber die Sonne scheint, um 09:00 morgens an einem Sonntag ist die sonst so touristische Stadt kaum bevölkert. Am Marktplatz sehen wir etliche Pferdekutschen und Kutscher die auf Kundschaft warten. Wir halten an einem kleinen Cafe, es ist nun sogar warm genug, um draußen zu sitzen. Der junge Kellner gestattet uns in gebrochenem Englisch, unsere Wasserflaschen im Bad des Cafes aufzufüllen. Als wir aufbrechen ist es bereits 11:00 und wir haben heute noch rund 67 km vor uns.
Wenn wir an Belgien zurückdenken, bleiben uns vor allem die tollen Fahrradwege in Erinnerung. Und dass alles flach ist. Und dass nach 15 km irgendwann alles gleich aussieht, wenn man an einem Kanal entlang fährt. “Wie viele Kilometer haben wir jetzt?”, fragt Joel. “20” -” Was erst? Das kann doch gar nicht sein!”. Wir sind wirklich langsamer als gedacht – bei leichtem Gegenwind eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 14,4 km/h. Aber wir sind eben auch noch nie mit so viel Gepäck Fahrrad gefahren.
Bald bemerken wir, dass wir viel zu wenig zu essen dabei haben. Beziehungsweise bemerke ich es daran, dass Joel anfängt hangry zu werden (wem das nichts sagt: das ist eine Mischung aus hungry und angry, also wenn man vor Hunger anfängt, sauer zu werden). Eine Tafel Lindt-Schokolade, die schon bessere Tage gesehen hat und ein paar Kekse aus dem letzten Frankreichurlaub müssen bis zum Mittagessen genügen. Zu meiner Verteidigung: Ich wollte ein ganze Tüte mit den letzten Nahrungsmitteln aus unserer Wohnung mitnehmen, Joel war aus Platzgründen strikt dagegen.
Langsam klart der bewölkte Himmel auf und wir haben gut ein Drittel der Strecke geschafft – es ist Zeit für das Mittagessen. Wir haben einen riesen Hunger aber nur eine Plastikschale mit Nudelsalat (Rucola-Pesto), den Joel am Vorabend als Snack für den Bus gekauft hatte. Dieses Zeug, das man in der Kühltheke bekommt und das normalerweise richtig reudig schmeckt. Aber was soll ich sagen – wir hatten wahnsinnigen Hunger, sodass selbst dieser Pastasalat köstlich war!
Nach dem Mittagessen wieder zurück auf die Räder zu steigen ist nicht einfach. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Weiter geht es auf Belgiens malerischen Fahrradwegen, durch kleine Dörfer, vorbei an kleinen und großen Kanälen und schließlich sogar an einer Herde Schafe. Schließlich fahren wir über die Grenze nach Frankreich – nur noch 10 Kilometer. Die Fahrradwege sind schlagartig signifikant schlechter gepflegt, aber immer noch gut befahrbar. Mal wieder merken wir, dass wir eigentlich keinerlei Gefühl für Entfernungen haben, denn die letzten 10 Kilometer ziehen sich wie Kaugummi. Es ist inzwischen fast 19:00, wir haben Hunger, der Po tut uns weh und es fängt an ziemlich unangenehm kalt zu werden. Ich habe Joel inzwischen schon öfter murmeln hören, dass er nach dieser Reise nie wieder auf ein Fahrrad steigen wird.
Schließlich kommen wir (nicht zum letzten Mal) am Campingplatz La Licorne in Dunkerque an und bekommen für 9,50 € eine Parzelle ohne Strom zugewiesen. Es gibt zwar wie so oft in Frankreich kein Klopapier, aber als deutsche Staatsbürger haben wir selbstverständlich welches dabei! In einer Fritterie verdrücken wir für 11,50€ einen riesen Berg Pommes, Nuggets und zwei Sandwiches + Getränke. Das tut gut. Draußen wird es langsam dunkel – viel später als in Deutschland – und kalt. Wir beeilen uns, zurück zum Campingplatz zu kommen, springen unter die heiße Dusche und ab in die warmen Schlafsäcke. Während ich die Route für den nächsten Tag plane, höre ich schon Joels sanftes Schnarchen neben mir.
Über den Ärmelkanal
Lange bleibt uns nicht zum Ausruhen. Am nächsten Tag heißt es um 07:00 aufstehen, packen und los. Vor uns liegen noch 20 km bis zu den Fähren-Docks, unsere Fähre legt um 12:00 ab. Wir kaufen Brot, Käse und Croissants ein, Joel kauft zusätzlich noch zwei Becher Espresso. Der ist so stark, dass ich ihn um diese Uhrzeit nicht herunterbekomme. Joel trinkt freudig auch noch meinen. Wir fahren quer durch Dunkerque und finden sogar meistens einen Fahrradweg parallel an einer großen Hauptstraße. Wir kommen an einigen Gruppen junger Männer mit Einkaufswägen und dunkler Hautfarbe vorbei, schließlich sehen wir auch rechts und links einer Eisenbahnbrücke viele bunte Zelte. Ein Lager, Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Großbritannien sind, die Hoffnung auf ein besseres Leben vor sich. Wie in Calais hat sich auch in Dunkerque ein sog. Jungle, ein illegales Flüchtlingslager entwickelt, von dem aus die Menschen hoffen, nach England zu gelangen.
Irgendwann biegt der Fahrradweg nach Norden in Richtung Meer ab und wir gelangen auf eine größere Zufahrtsstraße zum Hafen. Es ist sehr ruhig, nur gelegentlich überholt uns der ein oder andere LKW. Kurz vor der Küste macht die Straße eine Biegung, die wir versuchen, über einen kleinen Schotterweg abzukürzen. Ich drehe mich um, weil ich denke, aus dem Augenwinkel einen LKW gesehen zu haben und lasse kurz den Weg vor mir aus dem Auge. Schlechte Idee. Mein Fahrrad und ich rattern durch ein tiefes Schlagloch. Nochmal gut gegangen, denke ich, alles noch dran.
Falsch gedacht. 50 Meter später macht mein Fahrrad seltsame Geräusche. Ich inspiziere mein Hinterrad. Platt. “Ich habe einen Platten” sage ich zu Joel. Er lacht mich aus, sagt, ich solle doch in Zukunft genauer gucken, wo ich hinfahre. Nach einer mehr oder weniger ernst gemeinten Serie von Vorwürfen ist eines klar: Wir müssen uns verdammt nochmal beeilen, wenn wir es rechtzeitig zur Fähre schaffen wollen. Es ist inzwischen 11:15 und wir haben noch 2 km vor uns. Ärgerlicherweise kann man von hier aus sogar schon das Häuschen für die Passkontrolle sehen. Aber das Gebiet ist großräumig abgesperrt und wir müssen einmal um die Anlage herumfahren (bzw. -laufen), um dorthin zu gelangen. Wir rennen und schieben also was das Zeug hält und tatsächlich haben wir riesiges Glück und schaffen es gerade noch rechtzeitig auf die Fähre.
Wir sind die einzigen Passagiere mit (nur) Fahrrädern. Ein Mitarbeiter in oranger Warnweste zeigt uns den Weg zum Fahrradabteil: 5 mit gelber Bootsfarbe angestrichene Fahrradständer am Heck der Fähre mit blauem Tau zur Befestigung direkt neben den großen LKWs. Es ist nasskalt und durch die Motorengeräusche des Schiffes und der LKWs sehr laut. Wir verstauen unsere Räder, nehmen das Wichtigste mit und gehen an Deck. Auf der Fähre von DFDS kennen wir uns inzwischen schon aus – erst vor zwei Wochen waren wir mit dem Auto nach England übergesetzt. Jetzt heißt es erstmal: Steckdose finden und sämtliche elektronischen Geräte aufladen! Ich bin nach 18 km Radfahren und 2 km Sprint am Morgen fertig mit der Welt und verschlafe den Großteil der Fährfahrt. Joel weckt mich mit einem Kaffee und dann sieht man auch schon durch die wolkenbehangene See die weißen Klippen Dovers durchscheinen. Wir sind in Großbritannien!
Wir werden durch eine Lautsprecherdurchsage dazu aufgefordert, zurück zu unseren Fahrzeugen zu gehen. Da die Fähre in England mit dem Bug nach vorne anlegt, befinden wir uns nun im hinteren Teil des Schiffes. Als die ersten LKWs sich in Bewegung setzen, schieben wir unsere Räder durch den engen Korridor, der durch die riesigen Reifen der umstehenden Laster gebildet wird. Die Motoren gehen nach und nach an und der Lärm ist gewaltig. Am Bug angekommen werden wir von einem Mitarbeiter in neongelber Warnweste und Arbeitshelm mit Handzeichen gebeten, zu warten. Abwechselnd dürfen die LKWs rechts und links von uns ausfahren, wohl um das Gleichgewicht der Fähre zu halten. Wir sind beeindruckt davon, wie gut der behelmte Mitarbeiter nur mit Handzeichen die mächtigen Fahrzeuge koordiniert. Nachdem alle Laster die Fähre verlassen haben, gehen wir als letzte von Board.
Zwei Spezialisten und ein kaputter Schlauch
Aufgrund der Zeitumstellung ist es nach der zweistündigen Überquerung erst 13:00, was uns in die Karten spielt – schließlich haben wir knapp 50 km bis nach Faversham vor uns – und einen Platten. Unseren ersten auf dieser Tour. Ich habe noch nie einen Fahrradreifen geflickt!
Zum Glück ist die Hafen Crew in Dover sehr freundlich und wir dürfen dies vor einem kleinen Wärterhäuschen tun. Es gibt sogar einen Wasserhahn, sodass wir das verflixte Loch bald finden. Wir befolgen die Anweisungen unseres Flick-Sets genau, jedoch entweicht weiterhin Luft aus dem Schlauch, nachdem er wieder im Mantel steckt. Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, den Schlauch mal richtig ordentlich mit Druck aufzupumpen, BEVOR man wieder alles zusammenbaut. Naja, hinterher ist man immer schlauer.
Also alles wieder zerlegt, Ersatzschlauch rein, aufpumpen, fertig. Mein erster Hinterrad-Reifenwechsel hat gerade mal 2 Stunden gedauert. (Kommentar von Joel: “Es wäre wesentlich schneller gegangen, wenn ich dir hätte helfen dürfen. Aber du wolltest ja alles alleine machen…”) – er hat wahrscheinlich Recht. Aber den eigenen Reifen wechseln zu können gehört dazu, finde ich. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass das unser einziger Ersatzreifen war…? Heute darf also nichts mehr passieren!
Oh Südengland, warum bist du nur so hügelig?
Die Straßenführung in Dover ist für Radfahrer etwas chaotisch. Dazu sind die Radwege eher suboptimal gepflegt – und wir müssen auf der anderen Straßenseite fahren – für Joel leichter als für mich. Glücklicherweise sind die Kreuzungen hier für Mitteleuropäer wie mich gekennzeichnet: Look left, Look right hilft dabei, nicht vom nächsten Auto über den Haufen gefahren zu werden. Um den richtigen Weg aus Dover herauszufinden, muss unser Navigationshandy die gesamte Zeit eingeschaltet bleiben, da wir kaum länger als 100 m auf dem selben Weg bleiben (ob das jetzt an Dover lag oder an der Komoot App ist uns bis heute nicht so ganz klar…). Nach einem kurzen Zwischenstopp im Supermarkt zur Aufstockung unseres Proviants (Note to myself: Joel sollte man nicht alleine hungrig einkaufen gehen lassen…) geht es mit einem 5kg schwererem Gepäck als zuvor weiter bergauf.
Irgendwie muss man ja diese 200 m von Meeresebene auf die Klippen schaffen. Aber bei 10 % Steigung muss ich mit dem Gepäck hintendrauf aufgeben. Wir schieben – und auch das ist hart mit der Last – beinahe an jeder Straßenkreuzung muss ich anhalten und verschnaufen. Eigentlich ist es mit um die 10° C ziemlich kalt, aber bei dem Geschwitze weiß man gar nicht, ob man noch eine Lage drüber ziehen- oder lieber eine wieder ausziehen soll. Schließlich sind wir oben – denken wir.
Wir sind auf der National Cycle Route 16 nach Canterbury, ein traumhaftes Netzwerk aus kaum befahrenen Straßen, um uns herum sattgrüne Felder mit kleinen gepflegten Hecken dazwischen, Bäume und Büsche stehen in voller Blüte und es riecht nach frisch gemähtem Gras. England zeigt sich heute wirklich von seiner schönsten Seite – wären da nicht die verdammten Hügel! Und da sage nochmal jemand, England sei flach. Ohne Gepäck (und ausgeruht) wären die ständigen Anstiege wohl kaum ein Problem, doch für uns wird sehr bald jeder Hügel zur Qual. Mein Tacho zeigt kaum mehr als 5 km/h an. Die 50 km, von denen wir dachten, dass wir sie locker schaffen könnten, ziehen sich endlos.
Hallo Canterbury!
Es ist 19:15. Während einer kurzen Pinkelpause fasst Joel den Entschluss, einen näher gelegenen Campingplatz zu suchen, denn die Painter’s Farm in Faversham, unseren bereits gebuchten und bezahlten Campingplatz (auf einer Kirschbaumplantage – ich hatte mich so darauf gefreut!) werden wir im aktuellen Tempo wohl nicht vor 22:00 erreichen. Ein weiser Entschluss (wie ich einige Stunden später zugeben werde). Nachdem das erste Camping-Unternehmen, das wir kontaktieren, zwar Platz für unser Zelt, aber keine Toiletten oder Duschen bieten kann finden wir schließlich einen Caravan und Motorhome Park, den wir kurz vor Einlassschluss um 20:00 erreichen. Wir buchen gleich für zwei Nächte, denn wir sind wirklich erschöpft.
Wir bekommen einen schönen Fleck unter einigen Birken zugewiesen. Hier kochen wir das erste Mal mit unserem Primus T-Multifuel Kocher (an dieser Stelle nochmal ein riesen Dankeschön an meine unglaublichen Kollegen!) und es klappt erstaunlich gut. Es gibt ein Festmahl aus Würstchen, Tomaten und einer Fertigpackung Chili-sin-Carne im Plastikbeutel, die wir noch aus Deutschland mitgenommen hatten. Es schmeckt köstlich – und die Hauptsache: Es ist warm!!! Wir haben einen riesen Hunger und schaufeln alles in uns rein, dann geht es ab ins Bett. Habe ich schon erwähnt, dass ich unsere Schlafsäcke liebe?
Es ist hell. Ich wache mit einem warm-wohligen Gefühl auf. Selbst meine Füße sind warm. Nur meine Augen wollen irgendwie nicht so richtig aufgehen. Ich bin wohl einfach noch sehr müde. Joel kraxelt aus dem Zelt und macht uns Kaffee. Ich bleibe so lange es geht in meinem kuscheligen Schlafsack, dann spitze ich auch mal hinaus. Es ist noch ziemlich frisch, aber im Schlafsack eingewickelt kann man schon draußen auf den Campingstühlensitzen. Wir sitzen eine Weile rum, trinken heißen Kaffee mit kleinen Trockenmilch-Klümpchen und genießen es, ein bisschen nichts zu tun. Schließlich gehe ich zu den Sanitäranlagen und sehe mich zum ersten mal an diesem Tag im Spiegel – ich bekomme einen Schreck: Meine Augen sind fast komplett zugeschwollen. Wahrscheinlich das Werk der 8 Birken, die um unser Zelt herum stehen und freudig Pollen abwerfen. “Sag mal, wieso sagst du eigentlich nichts dass meine Augen komplett verschwollen sind und ich wie ein Frosch aussehe?”, frage ich Joel ungläubig. Er sieht mich unschuldig an: “Achso. Ich dachte du bist einfach nur sehr müde!”
Wir erkunden Canterbury. Das nur etwa 10 Minuten Fußweg von unserem Lager entfernte Städtchen hat einen wundervollen alten Stadtkern mit vielen, leicht schiefen Fachwerkhäusern und viel zu vielen Restaurants mit köstlich imponierenden Gerichten. Wir haben eigentlich gerade erst Mittag gegessen. Und wir müssen jetzt sparen! Also schnell weiter!
Am Ende gönnen wir uns dann doch Kaffee und zwei riesige Stücke Kuchen und zum Abendessen gibt es unsere erste richtige selbstgekochte Mahlzeit: Penne Carbonara mit “richtigem” Bacon wie Joel sagen würde.
Das Ende der ersten Etappe
Wir werden von leisen Tropfgeräuschen geweckt. An der Außenseite unseres tarngrünen Zeltes kullern kleine Tröpfchen hinab. Ich erinnere mich, wieso viele Menschen das Campen nicht mögen: Zelt im Regen abbauen ist wirklich Mist. Alles ist nass und dreckig. Zum Glück werden wir heute Abend alles bei Joel’s Vater aufhängen können.
Damit wir es rechtzeitig zum Junggesellenabschied von Elliot schaffen, nehmen wir heute einen Zug von Canterbury nach Market Harborough. Während es im Zug nach London, betrieben von den Southeastern Railways noch ein einigermaßen ordentliches Fahrradabteil gibt, wird es im Zug von London nach Market Harborough (betrieben von einer anderen Firma: den East Midlands Railways) deutlich schwieriger: Im gesamten Zug gibt es nur ein schmales Fach mit einer Schiebetüre im Gang direkt hinter der Tür zur Fahrerkabine, etwa wie in einer ICE-Toilette nur deutlich weniger breit, in das 2 Fahrräder hineinpassen sollen.
Nun, für zwei Rennräder ohne Gepäck würde das wohl zutreffen. Nicht aber für unsere voll bepackten Trekkingräder. Mein Fahrrad quetschen wir in das Abteil und Joels Rad versperrt den Gang, aber egal denken wir uns – wir fahren eh nur eine dreiviertel Stunde und außer dem Fahrer muss ja niemand ins vordere Abteil. Wir setzen uns also kurz und verschnaufen, denn die Fahrräder überhaupt in diesen wahnsinnig engen Zug zu quetschen war schon ein Akt. Etwa 20 Minuten vor unserem Halt weist uns eine Zugmitarbeiterin “freundlich” darauf hin, dass unsere Räder ein Sicherheitsrisiko darstellen und wir doch bitte unser Gepäck abnehmen sollen. Gesagt, getan: Etwa 10 Minuten später ist der Gang nicht mehr durch Joels Fahrrad, sondern durch unser gesamtes Gepäck und Joels halbes Fahrrad versperrt – der Architekt dieser Abteile scheint nie getestet zu haben, ob wirklich zwei Räder hier zusammen reinpassen. Wir setzen uns nochmal 5 Minuten hin und beginnen dann wieder, das Gepäck auf die Räder zu schnallen. (Anmerkung: trotz aller Umständlichkeiten bei Englands Fahrradmitnahme im Zug möchten wir nicht zuviel meckern – die Fahrradmitnahme ist zu bestimmten Zeiten möglich und kostenlos und wir haben jedesmal Hilfestellung vom Zugpersonal erhalten, sodass wir insgesamt sehr zufrieden sind!)
Nach einem kurzen Zwischenstopp bei Joels ehemaligem Arbeitgeber Welcomm in Market Harborough, bei dem Joel auf den 5 min vom Bahnhof vollkommen durchnässt wird (und ich in weiser Voraussicht meine Regenhose angezogen habe) fahren wir noch die letzten 9 km nach Ashley in strahlendem Sonnenschein.
Wir verbringen eine Nacht bei Joel’s Vater, dann trennen sich unsere Wege für das Wochenende – während Joel mit Elliot und seinem Vater zum Junggesellenabschied nach Manchester fährt, fahre ich am nächsten Tag die 15 km nach Little Stanion zum Haus von Joels Mutter und verbringe dort mit ihr und ihrem Lebensgefährten ein relaxtes Wochenende, bevor es am Dienstag weiter – zurück Richtung Südosten geht.
Einen Blogartikel zu schreiben ist sehr zeitaufwendig und wir sind beim Posten auf gutes Internet angewiesen, sodass unsere Erlebnisse hier oft einige Wochen zurückliegen. Wo wir aktuell sind, könnt ihr auf dieser Karte bzw. über unseren Instagram-Account verfolgen!
Vielleicht wird aus eurem Blogg später mal ein spannender Reisethriller…wer weiß, was noch so auf eurem Weg geschehen wird..der Blogg ist auf jeden Fall jetzt schon voll interessant und vermittelt viele wunderschöne Eindrücke von euren Erlebnissen.
Mein Mann und ich haben beim Lesen mehr als einmal lachen müssen.
Mega interessant und mit Witz geschrieben.
Freu mich auf den nächsten Teil.
Liebe Grüße an euch liebe Jana und Joel von Kerstin
Liebe Kerstin, vielen Dank für euren lieben Kommentar!
Haha, lieber eine Reise-Liebesgeschichte oder ein Reise-Abenteuer als ein Thriller 😉 Danke Mama!
Wir sind superfroh dich und Joel auf diesem weg bei eurer Reise begleiten zu können, vielen Dank für den spannend geschriebenen Einblick und weiterhin gutes Durchhalten und allzeit gute Fahrt! Freuen uns auf mehr!
Hi ihr beiden! Vielen Dank, wir freuen uns dass euch der Blog bis jetzt gefällt! Der „Kauf Joel ein Bier“-Button kommt hoffentlich bald 😀
Hallo Frau Riess,
Sehr kurzweilig und humorvoll geschrieben. Ich wünsche Ihnen beiden viel Spaß und Freude und Glück.
Viele Grüße Andrew Lichtenthal.
Hallo Herr Lichtenthal! Schön dass Sie unseren Blog gefunden haben! Und vielen Dank – Glück werden wir brauchen! 🙂
Moin Jana,
total genial von euch zu lesen 🙂 Witzigerweise musste ich vor kurzen an Euch denken (durch ein Photo) und jetzt lese ich euren Block 🙂 Ich wünsche euch eine schöne Reise, solltet ihr auf Rügen vorbei kommen, meldet euch gern.
Grüßle, die Meike (wir haben zusammen studiert)
Hi Meike! Schön dass du unseren Blog gefunden hast! Rügen liegt leider erstmal nicht auf unserem Weg, aber wir werden es uns merken 🙂 Ich hoffe, dir geht es gut!!