Von Tadschikistan nach Kirgistan
Auf dem Weg in die Alpen Zentralasiens
Urlaub in Tadschikistan oder Kirgistan?
Auf unserer Reiseliste standen diese beiden Länder vor Beginn unserer Fahrradtour jedenfalls nicht! Warum Tadschikistan und Kirgistan durchaus bereisenswert sind, weshalb wir durch einen lebensgefährlichen Tunnel radeln müssen und wie wir Bergpässe auf über 3000 Höhenmetern erklimmen, erfahrt ihr in diesem Artikel. Viel Spaß beim Lesen!
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Inhaltsverzeichnis
- Ein Krankenlager in der Wildnis
- Die wahre Bedeutung einer Einladung zum Tee
- Der Shahriston-Pass (2720 m)
- Ein Wiedersehen in Khujand
- Vom Bikepacker zum Grenzgänger
- Die jüngsten Fahrradmechaniker der Welt
- Müllberge und ein fabelhaftes Dessert
- Ein Abstecher zum Toktogul-Stausee
- Es wird ernst!
- Fliegen und Feinstaub
- Von Tourenradlern zu Mountainbikern
Tadschikistan
Ein Krankenlager in der Wildnis
Der tadschikische Grenzbeamte nimmt meinen Pass entgegen, stempelt ihn ab und gibt ihn zurück, ohne aufzublicken. Das war’s schon? Überrascht bedanke ich mich und schiebe mein Rad in Richtung Tadschikistan. Auch der Beamte in der Gepäckkontrolle schert sich wenig um unsere Räder und winkt uns einfach durch. So einfach war’s noch nie! Hallo Tadschikistan!
Wir mögen Tadschikistan sofort: Das liegt zum einen an den Menschen, die uns neugierig Fragen stellen, an den Kindern, die uns winkend nachrennen und an dem netten Ladenverkäufer, der uns ein Snickers schenkt. Zum anderen liegt es an dem magischen Ort, an dem wir heute zelten. Ein Bauer im grünen Hemd mit einer Kuh an einem Strick kommt winkend auf uns zu und zeigt in die Ferne. “Da, da ist ein guter Platz für euer Zelt!”, ruft er auf Russisch. Wir sind skeptisch, denn wir haben gehört, dass Einheimischen ab und zu eine Gebühr fürs Zelten einkassieren. Doch wir schieben die Bedenken zur Seite: Mehr als ein paar Euro würde er bestimmt nicht verlangen.
Wir folgen einem Feldweg und gelangen an eine Klippe. Im Schatten eines mächtigen Laubbaumes befindet sich eine ebene Stelle mit plattgedrücktem Gras. Es scheint fast so, als ob hier vor Kurzem schon mal ein Zelt stand. Die Aussicht ist der Wahnsinn: Ein reißender Fluss bahnt sich den Weg durch das sandige Tal, dahinter erstreckt sich eine Hügellandschaft aus ockerfarbenem Sandstein.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Ich zittere vor Kälte und mir ist wahnsinnig schlecht. Außerdem habe ich Magenkrämpfe. Oh nein…. Meine Gedanken springen zum Vortag zurück: John-Mi hatte uns geschrieben, aufgrund einer Magen-Darm-Krankheit eine Fahrradpause einlegen zu müssen. Vor meinen Augen dreht sich alles und ich schleppe mich mühsam aus dem Zelt. Die Grillen zirpen in der lauen Nacht und über dem Zelt funkelt ein perfekter Sternenhimmel. Es könnte so romantisch sein … Stattdessen übergebe ich mich ins Gestrüpp. “Danke, John-Mi!”, denke ich bitter.
Am nächsten Tag habe ich Fieber. Ans Weiterfahren ist nicht zu denken. Wir befinden uns in einer ziemlich abgeschiedenen Gegend: Das einzige Hotel weit und breit liegt 20 km (und viele Höhenmeter) hinter uns in der Grenzstadt Pandschakent. Trotz der Hitze (knapp 40°C) entschließen wir uns, zu bleiben. Eine gute Entscheidung: Ich bin völlig schlapp und auch Joel geht es im Laufe des Tages immer schlechter. Als uns am Nachmittag das Wasser ausgeht, schleppt Joel sich auf seinem Rad ins 4 Kilometer entfernte Dorf.
Er kommt kreidebleich zurück: “ Auf dem Rückweg war ich so langsam, dass ich fast vom Fahrrad gefallen wäre”, erzählt er. “Dann wurde mir schlecht, ich musste mich am Straßenrand “projektil-artig” in einen Busch übergeben.” Während wir beide im Schatten liegen und uns in unserem Elend suhlen, kommt der freundliche Farmer im grünen Hemd wieder. Will er Geld von uns?
Im Gegenteil! Er bringt uns eine Schüssel Plov, fermentierten Joghurt und Obst vorbei! Leider können wir das Festmahl in unserem aktuellen Zustand nur bedingt genießen.
Die wahre Bedeutung einer Einladung zum Tee
Der tadschikische Bauer lebt gemeinsam mit seiner Ehefrau in einer kleinen Hütte am Ende des Feldweges, die höchstens 10m² groß ist. Auf seinem Land pflanzt er Mais, Kartoffeln, Äpfel und Aprikosen an, außerdem hat er zwei Milchkühe. Im Schatten der kleinen Hütte liegt eine Decke auf dem Boden ausgebreitet. Darauf stehen zahlreiche Schüsseln in unterschiedlichen Größen mit Tee, Brot, Obst, verschiedener Butter und überdimensional großen Zuckerwürfeln. Zu schade, dass sich unsere Mägen noch gefährlich empfindlich anfühlen!
Wir dachte, wir kommen nur auf eine Tasse Tee vorbei. Außer ein paar kandierten Früchten und Keksen haben wir leider nichts, was wir beisteuern können. Unser Gastgeber schenkt uns Tee ein und wirft dazu je drei Zuckerwürfel in die winzigen Tassen. Wir nippen höflich davon – Zuckerwasser! Im Verlauf setzt sich auch die Ehefrau des Bauern zu uns. Sie hält sich auffällig im Hintergrund und ergreift nur selten das Wort.
Als wir etwa eine Stunde später aufbrechen wollen, bedeutet das Ehepaar uns, zu warten. Zwei Schalen heiße Milch mit Zucker und Butter werden uns eingeschenkt. Dazu gibt es eine Wassermelone. Dann verschwindet die Frau in der kleinen Hütte und ein herzhafter Geruch beginnt, die Luft zu füllen. 10 Minuten später kommt sie mit einer riesigen Schüssel Kuurdaak (Bratkartoffeln mit Fleisch) zurück!
Mein Magen dreht sich um: Dafür ist es in jeder Hinsicht noch zu früh! Sowohl was meinen lebensmittelvergifteten Magen betrifft, als auch die Tageszeit! Wir sind verblüfft von der Großzügigkeit des Ehepaars, doch mehr als ein paar Stücke Kartoffeln der Höflichkeit zuliebe schaffen wir einfach nicht. Die beiden dagegen schlagen ordentlich zu – Kuurdaak zum Frühstück scheint hier wohl normal zu sein. Wir entschuldigen uns wortreich für unseren mangelnden Appetit und loben das Frühstücksbuffet über alle Maße. Das scheinen die beiden schließlich zu akzeptieren.
Zum Abschied probiert der Bauer dann noch Joels Fahrrad aus und kann nur knapp einen Sturz mit dem 50 kg schweren Drahtesel verhindern. Joel möchte dem Ehepaar zum Abschied die Hand geben, doch die Frau schüttelt höflich, aber entschieden den Kopf und tritt einen Schritt zurück. Tadschikistan ist ein überwiegend muslimisch geprägtes Land. Doch da die Religionsausübung (vor allem des Islam) im öffentlichen Raum durch die Regierung stark eingeschränkt wird, merkt man das oft erst im Privaten.
Der Shahriston-Pass (2720 m)
Der Shahriston-Pass auf 2720 Höhenmetern ist der höchsten Punkt unserer bisherigen Reise. Zum Vergleich: Die Zugspitze ist 2962 m hoch. Um über den Pass zu kommen, müssen wir in 15 Kilometern 1400 Höhenmeter hochstrampeln. Nachdem wir im Städtchen Aini zum Gebirgskamm nach Norden abbiegen, beginnt ein kräftezehrender Anstieg mit einem kontinuierlichen Gradienten zwischen 5 und 10 Prozent. Alle paar hundert Meter halten wir an und schnappen nach Luft. Die Aussicht ins Tal ist atemberaubend. Wie der Zufall es will, kommen wir mittags an einem verlassenen Verkaufsstand vorbei, in dem sich sogar Kissen und Decken befinden! Lange können wir jedoch nicht verschnaufen, denn die Zeit läuft uns davon – wir haben noch 500 Höhenmeter vor uns.
Als wir schließlich den Pass-Tunnel erreichen, ist es 16:30. Völlig verschwitzt und erschöpft, aber glücklich fallen wir uns in die Arme.
Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns: Ohne Beleuchtung und Belüftungssystem gilt der 6 Kilometer lange Shahriston-Tunnel als einer der gefährlichsten Tunnel der Welt. Nicht zuletzt wegen der astronomisch hohen Kohlenmonoxid-Konzentration wird davon abgeraten, den Tunnel auf einem Fahrrad zu durchqueren.
Das ist auch gar nicht nötig. Bereits nach 2 Minuten Wartezeit können wir einen Kleinlaster anhalten, der uns mitnimmt. Der Tunnel ist in Realität noch viel gruseliger, als ich ihn mir vorgestellt hatte: Es ist stockfinster und man kann trotz Scheinwerferlicht keine 10 Meter weit sehen, so verschmutzt ist die Luft! Joel kann ich in der Dunkelheit nur neben mir erahnen. Als wir auf der anderen Seite aussteigen und dem Pickup nachwinken, ist mir schwindelig. Ob von dem Kohlenmonoxid oder der Erleichterung, den Tunnel überlebt zu haben? Wer weiss…Die Vegetation auf dieser Seite des Berges ist ganz anders als der kahle Fels im Süden: Plötzlich ist alles grün, fast wie in den Alpen. Ich entdecke einen Traumspot auf einer Alpenwiese für heute Nacht. Es gibt nur einen Haken: Wir müssen die Räder und das Gepäck durch zwei eiskalte Bergbäche tragen.
Ein Wiedersehen in Khujand
Es folgen eine 60 Kilometer lange Abfahrt, ein Stopp fürs Mittagessen in einer größeren Stadt und am Nachmittag weitere 60 Kilometer ohne Anstiege bis in die Stadt Khujand. Um spätestens 16:00 sollten wir da sein, rechnen wir aus und freuen uns auf unser Hotelzimmer und eine Dusche. Doch weit gefehlt: Wir haben kräftigen Gegenwind und die nächsten Stunden werden brutal anstrengend. Dazu kommt noch, dass sich die Temperaturen hier im Tal wieder der 40 Grad Marke nähern. Schließlich kommen wir zwei Stunden später als geplant und mit schmerzenden Oberschenkeln in Khujand an.
Die Luft in der Industriestadt ist voller Smog und es riecht nach verbranntem Metall und Benzin. Der breite Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt, sieht nicht gerade sauber aus, dennoch haben sich etliche Menschen in einer kleinen Bucht versammelt und toben im Wasser: Die Männer und Kinder in Badebekleidung, die Frauen in langärmeligen Kleidern. Auch wenn Frauen in Tadschikistan deutlich häufiger und aktiver am öffentlichen Leben teilnehmen als beispielsweise in der Türkei, erinnern solche Szenen mich traurigerweise immer wieder daran, dass wir auf dieser Welt von einer Gleichberechtigung weit entfernt sind.
Als wir in die Straße unseres Hotels einbiegen, laufen uns zwei bekannte Gestalten entgegen: Christoph und Stuart, die beiden Motorradfahrer, die wir schon aus Kasachstan und Usbekistan kennen! Zufälligerweise haben sie im selben Hotel das Zimmer direkt neben unserem gebucht! Naja, um ehrlich zu sein gibt es in Khujand keine wirklich große Auswahl an Hotels für Budget-Reisende. Abends gehen wir gemeinsam Schaschlik essen. Wir hören uns Geschichten über das Pamir-Gebirge an und erzählen von unserem harten 120 Kilometer-Tag. Die beiden wirken wenig beeindruckt davon. Auf dem Motorrad müssen 120 Kilometer wirken, wie ein Katzensprung. Ach, sie wissen wirklich nicht, wie es ist…
Vom Bikepacker zum Grenzgänger
Der Kairakkum-See ist der größte Stausee Tadschikistans und liegt direkt an der Grenze zu Kirgistan. Nach einem bewaffneten Konflikt zwischen den beiden Staaten im September 2022 wurden die Landesgrenzen geschlossen. Den berühmten Pamir-Highway im Westen Tadschikistans müssen wir deshalb leider auslassen. Stattdessen planen wir, im Norden Tadschikistans nach Usbekistan und von dort weiter nach Kirgistan zu fahren.
Wir rechnen mit einer hohen Militärpräsenz beider Seiten am Kairakkum-See, doch es kommt anders: Die Aprikosenbäume und Maisfeldern um uns herum lassen nicht erahnen, dass man sich gerade an einer Landesgrenze befindet. Im Gegenteil: Es gibt nicht mal einen Grenzzaun! Als wir an einer kleinen Siedlung vorbeikommen, wird es noch absurder: Die Straße, auf der wir uns befinden, ist quasi die Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgistan.
Auf der rechten Straßenseite (Kirgistan) reihen sich die Trümmer von zerstörte Tankstellen und verlassenen Läden mit kirgisischen Fahnen und Werbeplakaten aneinander. Einige Autos mit kirgisischen Kennzeichen stehen am Straßenrand. Sie fahren aber nicht auf der Straße, sondern auf dem Schotter, rechts davon. Links (Tadschikistan) wiederum sind die Häuser bewohnt und Straßenverkäufer bieten Obst und Gemüse an. Die Autos, die uns überholen, haben allesamt tadschikische Nummernschilder. Militär oder Polizei sind weit und breit nicht zu sehen. Gut möglich, dass wir kurzzeitig illegal die Grenze nach Kirgistan übertreten haben…
Die jüngsten Fahrradmechaniker der Welt
Kurz vor der usbekischen Grenze muckt Joels Schaltung auf. Es ist ein denkbar ungünstiger Ort für eine Fahrradpanne. Die Kabelhülle um den Schaltungsdraht herum ist aufgeplatzt, sodass Joel nur noch den mittleren Gang benutzen kann. Wir scheitern beim Versuch, das Kabel mit Tape* zu flicken. Joel ist mies gelaunt: Auf der Geraden strampelt er sich einen ab und beim Bergauf fahren muss er sich in die Pedale stemmen. Wir haben noch ein paar tadschikische Somoni übrig und finden ein kleines Sanitärgeschäft. Hier versuchen wir, ein Stück Draht und einen runden Winkel als Schienung für die Gangschaltung zu kaufen.
Versuchen? Ja, denn der Besitzer des Ladens will dafür partout kein Geld von uns annehmen. Und so haben wir an der Grenze zu Usbekistan noch Somoni im Wert von etwa 8 € übrig. In einem kleinen Supermarkt kaufen wir Eis und Fruchtgummis. 80 Cent. Mist. Bis wir die 8 € aufgebraucht haben, müssen wir noch einige Male in den Laden zurückgehen. Als schließlich auch die ganze Familie des Ladenbesitzers mit Eis versorgt ist, verabschieden wir uns winkend in Richtung Grenze.
Usbekistan
Zurück in Usbekistan. In der Großstadt Kokand im Fergana-Tal radeln wir ganz zufällig an einer Fahrradwerkstatt vorbei. Ein etwa 9 jähriger Junge beäugt Joels Rad fachkundig und hält dann einen Passanten an, um für ihn zu übersetzen. Er bittet Joel, das Hinterrad anzuheben, während er das Rad rotieren lässt und die Schaltung inspiziert. Obwohl wir beeindruckt von der Geschäftstüchtigkeit des Jungen sind, geht unser Problem wohl irgendwie in der Übersetzung verloren und wir fahren unverrichteter Dinge weiter.
Zu unserer Überraschung entdecken wir kurze Zeit später einen weiteren Fahrradladen! Joel erklärt den 5 Jugendlichen im Laden sein Problem in Zeichensprache. Daraufhin wird ein etwa 17-jähriger Junge aus dem Hinterzimmer gerufen. Er wirft einen kurzen Blick auf das Rad und macht sich sofort daran, das alte Kabel zu entfernen. Dabei scheucht er die übrigen Jungs herum, um ein Ersatzteil zu besorgen. Es ist eindeutig, wer hier der Boss ist. Nach etwa 10 Minuten besitzt Joels Rad eine brandneue Kabelhülle. Wir sind ganz schön beeindruckt und sehr erleichtert. Wir hatten nicht damit gerechnet, innerhalb der nächsten 1000 km ein Ersatzkabel besorgen zu können. Ein Hoch auf die usbekische Jugend! Die Reparatur kostet uns 20000 Som, umgerechnet 2,50 €.
Müllberge und ein fabelhaftes Dessert
Kurz vor der Grenze nach Kirgistan fahren wir an der größten Müllkippe vorbei, die ich je gesehen habe. Beidseits der Straße türmen sich in tiefen Gruben Berge an stinkenden Müllhaufen auf, soweit das Auge reicht. Hier und da befinden sich kleinere Brandherde aus Abfällen, beißender Qualm liegt in der Luft. Klar, der Müll muss irgendwo gelagert werden. Jetzt, wo wir unsere eigenen Abfälle teils kilometerlang mit uns herumtragen, ist uns noch bewusster, wie viel davon täglich für jeden von uns anfällt. Die Menschen hier leben im und vom Müll. Männer, Frauen und Kinder in abgewetzter Kleidung laufen am Straßenrand entlang und stochern auf der Suche nach etwas Brauchbarem im Abfall herum. Sie atmen die giftigen Dämpfe der Müllkippe tagtäglich ein, während ich selbst als Durchreisende versuche, so flach wie möglich zu atmen.
Kirgistan
Nachdem wir die tristen Verhältnisse an der Grenze zwischen Usbekistan und Kirgistan hinter uns gelassen haben, gelangen wir am Nachmittag in ein kleines Städtchen. Während wir eine Sim-Karte kaufen, betritt auch ein älterer Herr – vermutlich ein Imam – zusammen mit seinem Schüler den Laden. Beide haben einen langen, dünnen Bart und sind mit einer ovalen Kopfbedeckung und einer Robe bekleidet. Nach einem kurzen Gespräch lädt der freundliche Mann uns zu sich nach Hause ein. Wir lehnen dankend ab, denn wir wollen heute noch einige Kilometer fahren und freuen uns auf ein bisschen Abstand von Menschen. Daraufhin verlässt der Mann den Laden und kommt wenige Minuten später mit zwei großen Bechern Eis zurück, die er uns in die Hand drückt! “Willkommen in Kirgistan!”, ruft er lächelnd. Abends essen wir das noch halb gefrorene Eis zum Nachtisch mit gebrannten Mandeln und Bananenchips vor unserem Zelt. Gourmet-Dessert erster Klasse!
Ein Abstecher zum Toktogul-Stausee
In den nächsten Tagen folgen wir dem petrolblauen Naryn-Fluss durch ein Tal aus Felsformationen in den unterschiedlichsten Formen und Strukturen. Wir können uns an diesem Farbspiel gar nicht satt sehen. Die türkise Farbe des Flusses entsteht übrigens durch gelöste Calciumcarbonat-Partikel von Kalksteinen. Seichte Stellen, an denen die Straße nicht direkt steil zum Fluss hin abfällt, sind rar und scheinen auch bei den Einheimischen nicht unbekannt zu sein: Obwohl wir uns kilometerweit vom nächsten Ort entfernt befinden, zeugen Eierschalen, leere Plastikflaschen, Einwegbesteck und die ein oder andere halbe Wassermelone von kürzlich stattgehabten Picknicken.
Und auch nachts bleiben die so idyllisch wirkenden Orte nicht einsam: Als wir unser Zelt* unter einigen Aprikosenbäumen aufbauen, können wir die Stille nur kurz genießen. Ab Einbruch der Dunkelheit blendet das Scheinwerferlicht kommender und fahrender Autos alle halbe Stunde unser Zelt. Laute Gespräche und Partymusik dröhnen durch die Nacht.
Kirgistan, Kirgisistan oder Kirgisien?
Alle drei Schreibweisen kann man ab und an lesen. Der Begriff Kirgisien ist veraltet und wurde nach dem Fall der Sowjetunion abgeschafft. Bei Kirgistan und Kirgisistan ist es schwieriger: Während das auswertige Amt den Begriff Kirgisistan benutzt, findet man in Reiseberichten häufiger den Namen Kirgistan, der auch dem kirgisischen Кыргызстан (Kyrgysstan) und dem englischen Kyrgyzstan ähnlicher ist. Deshalb haben wir uns für Kirgistan entschieden. Weiterführende Infos gibt’s hier!
Bald ist mein Geburtstag. Im Laufe der Woche wird klar: Bis nach Bishkek schaffen wir es vorher sicher nicht. Wir werden also irgendwo in der Pampa sein. Und so ist es dann auch: Ich wache zum Rauschen der Wellen auf, die in regelmäßigen Abständen auf das Ufer des Toktogul-Stausees treffen. Viel wünsche ich mir nicht, denn ich bin vom Leben bereits wahnsinnig beschenkt worden: Ich kann mit meinem besten Freund und Partner ohne Ziel und Zeitlimit um die Welt reisen. Was will man mehr? In meinem Fall einen Tag ohne Fahrradfahren, ein warmes Abendessen und Handyempfang. Alle drei Wünsche werden mir erfüllt. Joel hat vor dem Zelt unser Tarp/Poncho* als Sonnenschutz aufgespannt und darunter einen Geburtstagstisch aufgebaut. Es gibt sogar einen abgepackten Biskuitkuchen mit Streichhölzern als Kerzen. Nachmittags schwimmen wir mit lauwarmen Bier in der Hand im glasklaren Wasser.
Das ca. 1 km breite, steil abfallende Ufer um den See herum besteht aus Kies und ampferartigen Pflanzen. Dieser Streifen war sicher in naher Vergangenheit noch von Wasser bedeckt worden. Das Wasserkraftwerk des Toktogul-Stausees produziert fast 40 Prozent der Energie Kirgistans und Schwankungen des Wasserstandes führen regelmäßig zu Energie Engpässen. Tatsächlich wird davon ausgegangen, dass aktuell 2 Milliarden Kubikmeter Wasser fehlen. Dies wird einerseits auf den Wasserverkauf an andere Staaten, aber auch auf die intensivierte Landwirtschaft zurückgeführt. Ein sinkender Wasserspiegel könnte dramatische Konsequenzen für die kirgisische Bevölkerung haben: Sinkt der Pegel unter einen bestimmten Grenzwert, wird kein Strom mehr produziert.
“Bikepacker!!”, ruft Joel. Und tatsächlich: Aus der Gegenrichtung radeln uns zwei Gestalten entgegen. Ine und Viktor aus Belgien haben gerade ihre Tour durch Kirgistan begonnen. Mit ihren ultraleichten Mountainbikes und minimalem Gepäck fahren sie die Route des Silk Road Mountain Races nach. Dabei handelt es sich um ein sog. Ultra-Endurance Radrennen, bei dem in 15 Tagen etwa 1800 Kilometer und knapp 15000 Höhenmeter überwunden werden – und das hauptsächlich off road. Für uns ist es die erste Begegnung mit Fahrradreisenden, deren Hauptmotivation die körperliche Herausforderung ist. Ine und Viktor sind wirklich top fit und meiner Meinung nach auch ein bisschen verrückt: Vor einigen Tagen, so erzählen sie uns, seien sie auf einem Schotterweg über einen Pass auf knapp 4000 Metern gefahren, nur um einen Tunnel zu meiden. 800 zusätzliche Höhenmeter auf einer unbefestigten Straße – ha, sowas machen wir mit Sicherheit nicht!
Es wird ernst!
Zwischen dem Örtchen Toktogul und Kirgistans Hauptstadt Bishkek liegen zwei Bergpässe auf über 3000 Höhenmetern. Glaubt man Google Maps, so liegen gut 240 Kilometer ohne Zivilisation vor uns. Wir sind ein bisschen nervös, freuen uns aber auch auf diese Herausforderung. Wir kaufen Vorräte für fünf Tage ein, darunter Haferflocken, Trockenfrüchte, Linsen, Bohnen aus der Dose, Zwiebeln, Karotten, Tomatenmark und abgepacktes Brot. Dann beginnt der Anstieg.
Zu unserer Überraschung ist die asphaltierte Straße durch die Berge nicht so verlassen, wie wir geglaubt haben. Am ersten Tage kommen wir alle paar Kilometer an Restaurants und kleinen Läden vorbei, in denen man Getränke und Snacks kaufen kann. Jede Menge Minibusse halten hier für eine Mittagspause. Die Straße scheint die Hauptverbindung zwischen Jalalabad im Südosten und Bishkek im Nordwesten des Landes zu sein. Je höher wir kommen, desto grüner wird die Landschaft. Wir sind erleichtert, dass es endlich etwas kühler wird. Auf 2000 Höhenmetern bauen wir unser Zelt in der Nähe eines Nomadendorfes aus Jurten und alten Wohnwagen direkt am Fluss auf.
Fliegen und Feinstaub
Wir haben einen Bärenhunger und sind heilfroh, als wir etwa 20 Kilometer später eine kleine Gaststätte zwischen einer Ansammlung von Hütten finden. Als wir gerade aufbrechen wollen, betritt ein weiterer Radfahrer den Laden: Simon. Wenn wir für unsere Fahrradreise als verrückt gelten, ist Simon (Bild) nicht mehr auf der Skala: Der britische Feuerwehrmann fährt von Australien zurück nach England. Dafür hat er bis jetzt nur 4 Monate gebraucht. Die nächsten Länder auf seiner Route: Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan. Selten haben wir so ein Energiebündel getroffen wie ihn. Er erzählt uns, dass er unter anderem die berühmte Afrika-Route Kairo nach Kapstadt gefahren ist – in drei Monaten!
Die asphaltierte Straße auf der Hochebene zwischen Alabel- und Töö-Ashuu-Pass ist menschenleer. Ab und zu passieren wir eine kleine Ansammlung von Hütten oder Jurten und in der Ferne erkennt man die riesigen Schafs- und Ziegenherden als zahlreiche braun-graue Punkte im grünen Meer der Steppe. Zum Zelten schieben wir die Räder einfach ein paar hundert Meter durch das hohe Gras bis zu einem kleinen Bach.
An diesem Abend schieße ich atemberaubende Bilder mit der Kamera*. Doch wie so oft gibt es zwei Seiten der Medaille: Was man auf den Fotos nicht sieht, sind die unzähligen winzigen Fliegen, denen es scheinbar Spaß macht, in unsere Augen, Münder und Nasenlöcher zu fliegen. Es muss seltsam aussehen, wie wir versuchen, mit einer Hand das Zelt aufzubauen, und mit der anderen die Fliegen abzuwehren. Was hingegen nicht funktioniert: Einhändig kochen. Ich schaffe Abhilfe, indem ich einen Schal über Mund und Nase ziehe und trotz der Dämmerung meine Sonnenbrille trage. Tja, das gehört auch zum Reisen dazu.
Ich verfolge mit den Augen die Serpentinen, die sich den massiven felsigen Berg vor uns hinauf schlängeln. In diesem Moment habe ich ehrliche Zweifel, dass wir es heute da hoch schaffen. Ich motiviere mich, indem ich mir Landmarken in ca. 500 Metern Entfernung suche. Kurze Verschnaufpause. Dann 500 Meter weiter. Nochmal 500 Meter. Einige Stunden lang kriechen wir so Stück für Stück weiter den Berg hinauf. Zum Glück ist der Töö-Ashuu-Pass auf knapp 3200 Höhenmetern der letzte Bergpass vor Bishkek. Wir brauchen dringend eine Pause. Nach 15 Kilometern und sage und schreibe 1200 Höhenmetern erreichen wir den Töö-Ashuu Tunnel am höchsten Punkt der Passstraße.
Es ist einer dieser Tunnel, vor denen man als Radfahrer gewarnt wird: 6 Kilometer lang, schlecht beleuchtet und belüftet, gefährlich hohe Kohlenmonoxid-Konzentration. Wir machen uns auf die Suche nach einer geeigneten Mitfahrgelegenheit, doch das ist komplizierter als gedacht. Aktuell stehen nur kleine PKWs und voll beladene LKWs in der Schlange vor dem Tunnel. Als wir in der nächsten halben Stunde kein geeignetes Fahrzeug finden, winkt uns der Tunnelwart uns schließlich hektisch zu, dem gerade passierenden LKW hinterherzufahren.
Über diesen Berg müssen wir!
Blick zurück ins Tal
Pferde überqueren die Fahrbahn
Es ist eine Erfahrung, die ich ungerne noch einmal wiederholen würde. Es ist stockdunkel, staubig und die Fahrbahn ist mit Schlaglöchern übersät. Bald schon verschwinden die Rücklichter des LKWs in der Dunkelheit vor mir. Wenn hier etwas oder jemand vom Rad fällt, denke ich, ist es für immer verloren. Ich bin wahnsinnig erleichtert, als ich das Licht am Ende des Tunnels sehe. Als wir am Straßenrand anhalten, müssen wir uns erstmal eine Schicht graue Asche von Händen und Gesichtern wischen. Belohnt werden wir mit einem atemberaubenden Blick über die Straße, die sich in zahlreichen Serpentinen zwischen den Hügeln hindurch ins Tal schlängelt.
Von Tourenradlern zu Mountainbikern
Was ihr bisher gelesen habt, ist übrigens nur der leichte Teil unserer Tour durch Kirgistan. Trotz einiger Bedenken werden wir von hier aus mit unseren schwer bepackten Tourenrädern abseits der geteerten Straßen weiterfahren. Das liegt nicht zuletzt an den Unmengen von Müll an den Bundesstraßen, die selbst das schönste Naturschauspiel zerstören. Außerhalb der großen Städte gibt es keine öffentliche Müllabfuhr, sodass viele Menschen ihre Abfälle achtlos in die Natur werfen. Für uns ist das nur schwer nachvollziehbar. Ein absurdes Beispiel dafür erleben wir, als Joel an einem kleinen Restaurant in den Bergen nach einem Mülleimer fragt. Die Besitzerin nimmt Joel den Plastikbeutel aus der Hand, doch statt ihn in einen Mülleimer zu entsorgen, wirft sie ihn achtlos in den Fluss. Wir sind sprachlos.
In Bishkek machen wir eine Pause und genießen die Vorzüge einer Großstadt: Wir lassen die Räder auf Vordermann bringen, essen Burger zu Preisen, von denen man in Deutschland nur träumen kann, und treffen alte Bekannte wieder.
Moritz unterhält sich mit einer Gruppe Teenager
Das ist das Ende dieses Blogartikels. Unser Abenteuer durch Kirgistan ist jedoch noch lange nicht vorbei. Man könnte sogar sagen, es hat gerade erst begonnen!
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